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12.07.2022

04:00

Lebensmittelkrise

WFP-Deutschlandchef Frick: „Es ist überall auf der Welt schick geworden, sich westlich zu ernähren“

Von: Teresa Stiens

Der Deutschlandchef des World Food Program ist sich sicher: Unser Ernährungssystem funktioniert nicht. Darunter leiden die Menschen weltweit. Auch Übergewicht ist eine Form der Mangelernährung.

Die Abhängigkeit vom Weizen ist weltweit hoch. dpa

Sudanesischer Bauer mit Getreide

Die Abhängigkeit vom Weizen ist weltweit hoch.

Berlin Wenn Martin Frick, Deutschlandchef des UN-Welternährungsprogramms (WFP) über die Zukunft der Nahrungsmittelsicherheit spricht, zeigt er auf seine Wand. Auf dem Plakat in seinem Büro in Berlin-Mitte sind Frauen zu sehen, die in einer wüstenähnlichen Landschaft Halbmondkreise in die trockene Erde ziehen.

Inmitten jedes Halbmondes steht ein Baum. Das Foto ist im zentralafrikanischen Niger aufgenommen. Die halbmondförmigen Löcher sollen den wenigen Regen dort stauen und so die Pflanzen besser mit Wasser versorgen.

Für Frick verdeutlicht das Bild, wie die Welt ihr Ernährungssystem wieder in Ordnung bringen könnte. Zurück zu lokalem Anbau traditioneller Nahrungsmittel wie Linsen, Quinoa oder Manioc, weg von dem schier unersättlichen Bedarf nach den immer gleichen Lebensmitteln. Frick sagt: „Es ist überall auf der Welt schick geworden, sich westlich zu ernähren.“ Mehr als 40 Prozent der international konsumierten Kalorien basierten mittlerweile auf Weizen, Reis und Mais. 

Jetzt wo Russland die Ukraine, die „Kornkammer der Welt“, überfallen hat und den Export von Weizen blockiert, droht Hunger. Die Vereinten Nationen (UN) schätzen, dass 2022 rund 44 Milliarden Euro benötigt werden, um alle Bedürftigen zu versorgen.

Im Juni kündigte das WFP an, die Essensrationen für Geflüchtete in mehreren westafrikanischen Ländern kürzen zu müssen. WFP-Geschäftsführer David Beasley sprach von einer „herzzerreißenden Entscheidung“.

Trog statt Teller

Für WFP-Deutschlandchef Frick hängt die Lebensmittelversorgung auf anderen Kontinenten auch mit dem Konsum hier in Deutschland zusammen. Schließlich stünden die Bedürftigen der Welt im Verteilungswettbewerb um Weizen auch in Konkurrenz zu den europäischen Nutztieren.

58 Prozent des Weizengesamtverbrauchs landen laut Bundeswirtschaftsministerium in Deutschland im Trog von Tieren. dpa

Schweinemastanlage

58 Prozent des Weizengesamtverbrauchs landen laut Bundeswirtschaftsministerium in Deutschland im Trog von Tieren.

Denn laut Bundeslandwirtschaftsministerium landen rund 58 Prozent des Weizengesamtverbrauchs in Deutschland im Trog der Tiere. Für Frick ein Argument gegen die Massentierhaltung: „Vieh auf der Weide zu halten ist sehr viel artgerechter und produktiver“, sagt er. Denn Gras wachse dort ohnehin.

Einen weiteren Faktor für eine bessere Nahrungsmittelverteilung sieht Frick in den Regalen der Supermärkte. Laut Bundeslandwirtschaftsministerium landeten 2020 rund 10,9 Millionen Tonnen Lebensmittel in der Mülltonne statt in den Mägen. „Wenn samstagsabends im Supermarkt noch 40 Pakete Sushi zu kaufen sind, ist klar, dass die nicht alle gegessen werden“, kritisiert Frick die Konsumgewohnheiten.

Und noch an etwas anderes müssten sich die Deutschen langfristig gewöhnen: an höhere Preise. „Wir hatten über Jahre unglaublich billige Lebensmittel“, kritisiert Frick. Das werde sich jetzt langfristig ändern.

Martin Frick ist Deutschlandchef des UN-Welternährungsprogramms (WFP). UN-Welternährungsprogramm

WFP-Deutschlandchef Martin Frick

Martin Frick ist Deutschlandchef des UN-Welternährungsprogramms (WFP).

Im Jahr 2020 investierten die Deutschen nur zwölf Prozent ihrer Ausgaben in Lebensmittel und Getränke, deutlich weniger als der EU-Durchschnitt mit fast 15 Prozent. In vielen Ländern des globalen Südens liegt dieser Anteil laut Welthungerhilfe allerdings bei 50 bis 100 Prozent. Preisanstiege für Lebensmittel können dort also kaum durch Verzicht an anderer Stelle ausgeglichen werden – es droht Hunger.

Mangelernährung in Deutschland

In Deutschland besteht diese Gefahr zwar nicht, Martin Frick sieht allerdings, dass viele Menschen auch hierzulande mangelernährt seien. Dabei gehe es zwar nicht um die Frage von genügend Kalorien, allerdings seien auch Menschen schlecht ernährt, für die hochwertige Lebensmittel zu teuer seien.

„Auch Übergewicht kann eine Form der Mangelernährung sein, zum Beispiel, wenn der Körper nicht genug Mineralstoffe und Vitamine bekommt und nach immer mehr Essen verlangt“, erklärt Frick. Außerdem wüssten viele Menschen nicht mehr, wie sie frische Lebensmittel selbst zubereiten sollen. „Ich bin ein großer Fan davon, Kindern schon früh das Kochen beizubringen“, sagt er.

Für die kommende Entwicklung der Welternährung sieht er sowohl Herausforderungen als auch große Chancen. Einerseits werde der Ukrainekrieg auch die kommenden Ernten beeinflussen – nicht nur vor Ort, sondern überall. Denn Russland habe sich auf dem Weltmarkt vor allem als großer Anbieter von drei Produkten etabliert: Energie, Weizen und Kunstdünger. Eine Veränderung in der Versorgung mit allen drei Gütern kann daher das globale Ernährungssystem ins Wanken bringen.

Millionen Tonnen Getreide werden in der Ukraine seit Wochen von Russland blockiert. dpa

Getreideernte

Millionen Tonnen Getreide werden in der Ukraine seit Wochen von Russland blockiert.

Doch darin sieht Frick auch eine Chance, das kaputte globale System langfristig zu reformieren. Ein System, das nicht nur durch den Ukrainekrieg, sondern auch die Coronapandemie und vor allem die Klimakrise massiv unter Druck steht.

Fricks Vision für die Welternährung ist eine größere Diversität im Anbau und eine stärkere Fokussierung auf Lebensmittel, die für die jeweilige Region Sinn ergeben. Ohne allerdings in Protektionismus zu verfallen. Davon, so hofft er, würden nicht nur die Frauen im Niger, sondern auch die Menschen in Deutschland langfristig profitieren.

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