Die britische Premierministerin Liz Truss gibt auf. Wie konnte es zum Regierungschaos in London kommen und wie geht es jetzt weiter? Die wichtigsten Antworten.
Politischer Herbst in 10 Downing Street: Premierministerin Liz Truss steht vor der Ablösung
Der Amtssitz der britischen Premierministerin Liz Truss in 10 Downing Street am Donnerstagmorgen.
Bild: AP
London Die britische Premierministerin Liz Truss steht sechs Wochen nach ihrer Amtsaufnahme bereits vor ihrer Ablösung. Es ist die kürzeste Amtszeit einer Regierungschefin, die es in Großbritannien je gegeben hat. Wie konnte es dazu kommen? Hier die Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Regierungskrise in London:
Zunächst hat der von Truss gerade erst berufene Finanzminister Jeremy Hunt am Montag ihren wirtschaftspolitischen Kurs nahezu um 180 Grad gedreht und den größten Teil ihrer Steuersenkungen wieder rückgängig gemacht. Dadurch hat die Premierministerin enorm an Glaubwürdigkeit verloren.
Zuvor musste sie auf Druck der Finanzmärkte bereits ihren Gesinnungsgenossen Kwasi Kwarteng als Schatzkanzler entlassen. Kwarteng wollte Truss‘ Agenda mit einem Finanzpaket – einem sogenannten „Mini-Haushalt“ – umsetzen.
Offiziell begründete Truss die Entlassung ihrer Innenministerin mit einem formalen Verstoß Bravermans gegen Geheimhaltungsvorschriften. Tatsächlich waren sich die beiden Frauen politisch uneinig: Truss wollte die Einwanderungsregeln lockern, um mehr Wachstum zu erzeugen. Die Brexit-Anhängerin Braverman war kategorisch dagegen.
Suella Braverman
Die ehemalige Innenministerin konnte sich mit Liz Truss politisch nicht einigen.
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Die Premierministerin riskierte mit der Entlassung auch die Unterstützung des rechten Parteiflügels, der sie an die Macht gebracht hat. Die Brexit-Anhänger sahen zudem durch die Berufung des Truss-Kritikers Grant Shapps zum neuen Innenminister ihre nationalistische Agenda in Gefahr.
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Shapps ist nach Hunt bereits der zweite Vertreter vom linken Flügel der Tories, der eine Schlüsselposition im Kabinett einnimmt. Dass auch der ehemalige Brexit-Unterhändler und Truss-Vertraute David Frost den Rücktritt der Premierministerin forderte, zeigte, wie brenzlig ihre Lage bereits war.
Die oppositionelle Labour-Partei wollte mit einem Votum über das Fracking den politischen Riss bei den Tories offenlegen. Truss befürwortete das umstrittene Verfahren zur Gasgewinnung, viele ihrer konservativen Parteifreunde sind dagegen.
Bei der Abstimmung kam es dann nach Angaben von mehreren Abgeordneten zu „Handgreiflichkeiten und Bullying,“ um die parlamentarische Mehrheit der Regierung zu sichern. Am Ende gewann Truss zwar das Votum, verlor durch das Chaos aber weiter an Unterstützung in den eigenen Reihen.
Als Favorit für den Topjob galt Finanzminister Jeremy Hunt, der allerdings laut einem Sprecher eine Kandidatur ausschließt. Außerdem werden der frühere Schatzkanzler und Truss-Rivale Rishi Sunak und die konservative Mehrheitsführerin im Unterhaus Penny Mordaunt genannt. Das Problem ist, dass sich der rechte und der linke Parteiflügel bislang nicht auf einen Kandidaten einigen können. Bis zum 28. Oktober soll die Nachfolge von Truss nach dem Willen der Konservativen Agenturen zufolge aber geregelt sein.
Der Oppositionsführer Keith Starmer kündigte noch Rücktrittstag der Premierministerin seine Bereitschaft zur Übernahme der britischen Regierungsgeschäfte an. „Wir stehen bereit, eine Regierung zu formen“, sagte Starmer am Donnerstag dem Sender Sky News.
Auch der Truss-Vorgänger Boris Johnson kündigte am Donnerstang ein Comeback an. Wie ein leitender „Times"-Redakteur auf Twitter schrieb, betrachtet Johnson die Entwicklungen als „Sache von nationalem Interesse“ und bereitet sich auf eine Kandidatur für den Vorsitz der Konservativen Partei vor. Als Vorsitzender der Torys wäre Johnson dann auch britischer Premierminister.
Nein. Wer auch immer die Regierung führt, steht vor einem politisch und wirtschaftlichen Haushaltsdilemma.
Um die Schulden in den Griff zu bekommen, fehlen rund 40 Milliarden Pfund (etwa 47 Milliarden Euro) in der Staatskasse. Diese Lücke kann nur durch weitere Steuererhöhungen oder Einschnitte bei den Ausgaben geschlossen werden.
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Beide Wege sind politisch heikel, weil es dafür im Parlament momentan keine Mehrheiten gibt. Finanzminister Hunt will am 31. Oktober einen Weg aus der Zwickmühle aufzeigen und steht dabei unter dem Druck der nervösen Finanzmärkte. Viele Briten erwarten einen Halloween-Schrecken und befürchten eine neue Austeritätspolitik.
Der Oppositionsführer Starmer hat am Donnerstag schnellstmögliche Neuwahlen gefordert. Kein Wunder, seine Labour-Partei führt in den Meinungsumfragen vor den Tories mit mehr als 30 Prozentpunkten und würde wohl die absolute Mehrheit gewinnen.
Die Tories haben angesichts ihrer desolaten Lage kein Interesse an frühen Neuwahlen und setzen darauf, den Wahltermin bis Ende 2024 hinauszuzögern. Nachdem die Regierung jedoch zusammengebrochen ist, dürften die Konservativen es schwer haben, den fünften Premier in sechs Jahren ohne ein Wählervotum ins Amt zu bringen.
Erstpublikation am 20.10.22, um 14:44 Uhr.
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