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22.09.2021

04:00

Logistik

Versorgungsengpass droht – Allein in Deutschland fehlen derzeit 60.000 bis 80.000 Lkw-Fahrer

Von: Eva Fischer

PremiumLohndumping, unattraktive Arbeitszeiten und ein schlechtes Berufsimage: In der Branche fehlt es an Arbeitskräften. Die EU hat zwar schon Maßnahmen ergriffen – doch die reichen nicht.

Nicht nur Großbritannien, auch der  EU drohen Lieferengpässe durch den Mangel an Lkw-Fahrern. dpa

Lkw-Fahrer auf einer Raststätte

Nicht nur Großbritannien, auch der EU drohen Lieferengpässe durch den Mangel an Lkw-Fahrern.

Brüssel Die Bilder aus Großbritannien erinnern an den ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020. Die Supermarktregale sind leer, manche Produkte einfach nicht zu bekommen. Das Problem in diesem Fall: Die Nachlieferung der Waren ist diesmal wirklich nicht mehr garantiert.

Es ist eine Situation, die absehbar war – und die der Brexit noch beschleunigt hat. Und es ist eine Situation, die der EU auch bevorstehen könnte: Es fehlen so viele Lkw-Fahrer, dass es in den kommenden zwei bis fünf Jahren zum Versorgungskollaps kommen könnte, warnt Dirk Engelhardt vom Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung.

Konkret auf Deutschland bezogen fehlen derzeit 60.000 bis 80.000 Fahrer, jedes Jahr wird die Lücke um 15.000 größer. Denn es gehen jährlich etwa 30.000 von ihnen in Rente, die Zahl der Nachwuchskräfte liegt aber nur bei 15.000.

In den anderen europäischen Ländern sieht das nicht anders aus. Der durchschnittliche europäische Lkw-Fahrer ist über 50 Jahre alt, meist sogar über 55 Jahre. „Wir hören von unseren Schwesterverbänden aus den westeuropäischen Ländern, aber mittlerweile auch vermehrt von den Kollegen aus Osteuropa, dass sie keine Fahrer mehr bekommen“, sagte Engelhardt dem Handelsblatt.

Die Gründe sind vielfältig und in der Branche hinlänglich bekannt. Lohndumping, ein unkomfortabler Arbeitsplatz, Arbeitszeiten, die nicht mit einem erfüllten Sozialleben vereinbar sind, das generell schlechte Image des Fahrerberufs: All das sorgt dafür, dass nicht nur viele den Beruf aufgeben, sondern dass junge Leute ihn gar nicht erst ergreifen wollen.

Hinzu kommen die hohen Ausbildungskosten: Kalkuliert man neben den reinen Fahrschulkosten auch die Betriebskosten ein, kostet ein Lkw-Führerschein über 10.000 Euro. „Das kann sich kein Unternehmer leisten“, sagt Engelhardt. Denn bilde ein Logistikunternehmen einen Fahrer aus, werde dieser sofort von einem anderen Unternehmen abgeworben: für ein um hundert bis zweihundert Euro höheres Gehalt. Die Investition lohne sich aus Unternehmenssicht also nicht beziehungsweise sei sehr risikoreich.

Aussetzen der Wehrpflicht trägt ebenfalls zum Fahrermangel bei

Der Fahrermangel hängt in Deutschland auch mit dem Aussetzen der Wehrpflicht zusammen: Die Bundeswehr ist zwar mit etwa 10.000 Auszubildenden pro Jahr immer noch der größte Fachkräftebeschaffer der Branche; als es die Wehrpflicht noch gab, wurden allerdings fast doppelt so viele Fahrer ausgebildet. Zum Vergleich: Die größten Logistikunternehmen selbst bilden jeweils nur etwa 100 Fahrer pro Jahr aus.

Akut ist nach dem Brexit und wegen der Coronakrise der Mangel an Lkw-Fahrern, der dazu führt, dass viele Regale in Supermärkten leer bleiben. dpa

Lebensmittellieferungen in Großbritannien

Akut ist nach dem Brexit und wegen der Coronakrise der Mangel an Lkw-Fahrern, der dazu führt, dass viele Regale in Supermärkten leer bleiben.

Die EU hat mit ihrem Mobilitätspaket, das vergangenes Jahr verabschiedet wurde, bereits erste Schritte unternommen, die Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern zu verbessern. Die wichtigsten Punkte:

  • Die Lkw-Fahrer dürfen ihre Wochenruhezeit, die mindestens 45 Stunden dauern muss, nicht mehr im Fahrzeug verbringen. Stattdessen sollen sie an ihren freien Tagen bestenfalls zu Hause sein – und wenn das nicht möglich ist, im Hotel schlafen. Für die Kosten muss der Arbeitgeber aufkommen.
  • Des Weiteren darf die maximale Lenkzeit geringfügig überschritten werden, um es bei unvorhersehbaren Ereignissen wie einem Stau oder starkem Regen doch noch bis nach Hause zu schaffen, bevor die gesetzliche Wochenruhezeit beginnt. Mindestens alle drei Wochen sollen die Fahrer die Möglichkeit haben, in ihren Wohnort zurückzukehren.

„Die neue Regelung wird dem Nomadenfahren ein Ende setzen“, sagt CDU-Politiker Andreas Schwab, Sprecher der christdemokratischen EVP-Fraktion im Binnenmarktausschuss. „Bis dieses Modell aber wirklich greift, wird noch etwas Zeit vergehen – und die bürokratischen Verpflichtungen sind natürlich auch ziemlich hoch.“

Unsichere Parksituation hält Frauen vom Job fern

Laut Engelhardt reiche das Mobilitätspaket aber bei Weitem nicht aus, um den Fachkräftemangel der Branche in den Griff zu bekommen. „Eigentlich müsste man alles daransetzen, den potenziellen Fahrern den Job leichter zu machen“, sagt er. Auch mit Drittstaaten müsse man zusammenarbeiten. Europa allein könne das Problem nicht lösen.

Als eine konkrete Maßnahme schlägt Engelhardt vor, Lkws autarker zu machen: „Im Moment sind auf Ebene der Nationalstaaten Gewichte und Länge der Fahrzeuge festgeschrieben. Wir brauchen da mehr Spielraum.“

Auch um den Lkw als Arbeitsplatz selbst attraktiver zu gestalten: „Im Moment hat so ein Lkw ein Bett drin, vielleicht auch eine Mikrowelle oder einen Fernseher. Aber auf keinen Fall gibt es eine Waschmöglichkeit oder eine Toilette. Dabei wäre das ja alles möglich – wie wir im Camping-Bereich sehen können“, sagt er.

Dies sei auch eine Möglichkeit, den Job für Frauen interessanter zu machen: Die Frauenquote des Fahrerberufs liegt bei zwei Prozent. Neben der schlechten Vereinbarkeit von Familienleben und Job gibt es noch einen weiteren gravierenden Grund, der Frauen vom Lkw-Lenkrad fernhält: Angst. „Viele top arbeitende Fahrerinnen sagen: ,Ich bleib nicht über Nacht draußen, wenn ich nicht weiß, wo ich abends den Lkw abstellen kann, ob ich Zugang zu sanitären Anlagen habe – und ob der Parkplatz überhaupt beleuchtet ist'“, berichtet Engelhardt.

Ein Punkt, den die EU mit ihrem Mobilitätspaket bereits angegangen ist, wenn auch lediglich in kostengünstigster Weise: So gibt es eine Liste der EU-Kommission, wo sich sichere Parkflächen befinden, die zum Beispiel ausreichend beleuchtet sind, über geschlechtergerechte Sanitäranlagen verfügen – und den Zugang von Unbefugten verhindern. Der allgemeine Parkplatzmangel wird dadurch aber nicht behoben.

In Deutschland fehlen derzeit 60.000 bis 80.000 Fahrer. action press

Lkw-Fahrer

In Deutschland fehlen derzeit 60.000 bis 80.000 Fahrer.

Auch zum Thema längere Lkws gibt es bislang keinen Vorstoß aus Brüssel. Sogenannte Lang-Lkws können eine Länge von bis zu 25,25 Metern haben. „Hier gibt es bislang keinen europäischen Ansatz. Nicht mal in allen deutschen Bundesländern sind Lang-Lkws erlaubt“, sagt Binnenmarkt-Politiker Schwab. Da, wo erlaubt, dürfen Lang-Lkws nur auf ganz bestimmten Strecken fahren, weil nur wenige Straßennetze für die Riesen-Lkws befahrbar sind. „Eine Option könnte sein, diese Lang-Lkw europäisch zu regeln und auf längere Sicht auch das Straßennetz dementsprechend auszubauen“, so Schwab.

Dadurch würden auch weniger Fahrer benötigt, da mit den Riesen-Lastern mehr transportiert werden kann. Bis das alles umgesetzt ist, wird es dauern – falls es überhaupt so weit kommt. Denn der politische Wille, die Riesen-Lkws zum gängigen Bestand des Straßenverkehrs zu machen, ist nicht sonderlich ausgeprägt.

Geringes Potenzial der Verlagerung auf die Schiene

Das hängt auch mit der nötigen Mobilitätswende zusammen. „Perspektivisch ist klar, dass wir den Güterverkehr in der EU klimaneutral, emissionsfrei und weniger lärmintensiv aufstellen müssen, um die Ziele des europäischen Green Deals zu erreichen. Dazu gehört eine Verlagerung von der Straße auf die Schiene“, sagt zum Beispiel Grünen-Politikerin Anna Cavazzini, die den Binnenmarkt-Ausschuss des Europaparlamentes leitet.

Für Engelhardt ist das jedoch keine Lösung für den derzeitigen Fahrermangel: Das Verlagerungspotenzial liege unter den derzeitigen Bedingungen im einstelligen Bereich, wie eine in Auftrag gegebene Studie des Logistikverbandes ergeben habe. Die Erklärung dafür: Nicht in jedem Ort gebe es Bahnverbindungen, eine Von-Lager-zu-Lager-Leistung könne die Bahn gar nicht anbieten und nicht jedes Unternehmen habe ich nötigen europaweiten Niederlassungen, um sich selbst um den Weitertransport am Zielort kümmern zu können.

Auch durch das autonome Fahren werde sich der Fahrermangel nicht erübrigen. „Wir sollten nicht so tun, als ob wir in fünf Jahren autonom fahrende Lkws hätten. Die Industrie sagt selbst, das wird es nicht geben – nicht vor 2038“, sagt Engelhardt. „Dann kann es zwar sein, dass zwischen Hamburg und München keiner mehr das Lenkrad festhalten muss, die Anwesenheit eines Fahrers bleibt aber weiterhin erforderlich.“

Drehkreuze für den Straßengüterverkehr

Für eher in näherer Zukunft realisierbar hält er den Ansatz des europaweiten Ausbaus von vernetzten Verkehrszentren – quasi ein Drehkreuz für den Straßengüterverkehr. „Dann muss kein Fahrer mehr von Hamburg bis Barcelona durchfahren“, sagte Engelhardt. Sondern die Ladung würde zum Beispiel in Frankfurt am Main und dann noch einmal in Paris umgeladen werden, und jeder Fahrer wäre am Ende des Tages wieder zu Hause.

Grafik

Obwohl in Brüssel in weiten Teilen das Gefühl herrscht, man habe mit dem EU-Mobilitätspaket bereits viel getan, ist aus Kommissionskreisen zu hören, dass die sich zuspitzende Situation dort mit großer Sorge beobachtet werde – und bereits über weitere konkrete Maßnahmen nachgedacht werde.

Für Engelhardt ist das schön zu hören: „Wenn das Problem wirklich erkannt ist, die EU-Kommission sich dessen annimmt und auch die Mitgliedstaaten an Bord hat, können wir die Trendwende noch schaffen“, sagt er.

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