PremiumDie Regierung des libanesischen Premiers Diab ist am Ende. Die Geldgeber verlieren das Vertrauen. Das Chaos erschwert den Aufbau der Stadt.
Tel Aviv Knapp eine Woche nach der Explosionskatastrophe in Beirut ist die libanesische Regierung zurückgetreten. „Heute folgen wir dem Willen des Volkes“, sagte Ministerpräsident Hassan Diab am Montag in einer live im Fernsehen übertragenen Ansprache. Das Volk verlange, dass die Verantwortlichen für die Katastrophe zur Rechenschaft gezogen werden, und habe den „Wunsch nach echtem Wandel“. Zuvor waren bereits mehrere Minister zurückgetreten.
Diab hatte am Samstag Neuwahlen gefordert. Am Wochenende schlugen dann Demonstrationen im Zentrum der Stadt gegen die politische Elite in Chaos und Gewalt um. Dabei wurde immer wieder ein Rücktritt der Regierung gefordert. Viele Libanesen machen die Regierung für die Explosion im Beiruter Hafen mit mindestens 160 Toten und mehr als 6000 Verletzten verantwortlich.
Insider zufolge soll die Regierung im Juli durch Sicherheitsexperten gewarnt worden sein. Dabei wurden explizit die 2750 Tonnen Ammoniumnitrat erwähnt, die wohl zu der Explosion führten.
Die Warnung sei an den Ministerpräsidenten Hassan Diab und den Präsidenten Michel Aoun gegangen, sagten mit entsprechenden Berichten vertraute Personen. Im jüngsten Bericht der Generaldirektion für Staatssicherheit gebe es einen Hinweis auf einen Brief an die beiden Politiker, der am 20. Juli verschickt worden sei. Der Inhalt des Briefs geht aus dem Bericht, den Reuters einsehen konnte, nicht hervor.
Ein mit den Vorgängen Vertrauter sagte aber, das Schreiben habe die Ergebnisse einer Untersuchung zum Inhalt gehabt. Darin sei der Schluss gezogen worden, dass die Chemikalien umgehend abgesichert werden müssten. „Es gab die Gefahr, dass das Material, sofern es gestohlen worden wäre, für Terroranschläge genutzt werden könnte“, so die Person, die an der Formulierung des Briefs beteiligt war und nicht namentlich genannt werden will. „Ich habe sie gewarnt, dass dies Beirut zerstören kann, wenn es explodiert.“
Die Büros des Ministerpräsidenten und des Präsidenten ließen Anfragen zu dem Brief unbeantwortet. Auch die Staatsanwaltschaft wollte sich nicht äußern.
„Die Regierung Diab ist am Ende“, sagt Maha Yahya von der Denkfabrik Carnegie Middle East Center in Beirut. Dabei wäre gerade jetzt eine stabile Regierung dringend gefragt, die erstens in der Lage ist, die Stadt wieder aufzubauen. Und zweitens das Vertrauen der Geberländer genießt.
Stattdessen gibt es nun im Krisenstaat ein politisches Vakuum. Bis zuletzt hatte die Hisbollah versucht, einen Rücktritt der Regierung zu verhindern, berichtet die in London erscheinende Zeitung „Asharq Al-Awsat“, die der saudischen Königsfamilie nahesteht.
Die Hisbollah, die im Libanon einen Staat im Staat bildet und über eine Miliz verfügt, die stärker ist als die libanesische Armee, hat größtes Interesse am Erhalt der Regierung. Denn diese hat sie unter Kontrolle. Die Hisbollah ist unter anderem zuständig für den Hafen, auf dem das explosive Material gelagert wurde.
Seit der Explosion kommt es in der Bevölkerung zwar zu spontanen Zeichen der Solidarität, indem viele einen freiwilligen Einsatz bei den Aufräumarbeiten leisten. Aber politisch bleibt das Land gespalten wie eh und je.
Auf der einen Seite steht die mächtige Hisbollah, die Premier Diab unterstützt, auf der anderen Seite hat der höchste Würdenträger der Maroniten, der einflussreiche Patriarch Bechara Boutros Al-Rai, genau das Gegenteil gefordert: die Abdankung des 20-köpfigen Kabinetts. Dieses sei nicht in der Lage, das Land von den Wunden der Explosion zu heilen.
Im Gegensatz zu Diab und der Hisbollah fordert Al-Rai zudem eine internationale Untersuchung der Explosionen, die er als „Verbrechen gegen die Menschheit“ bezeichnet. Die Länder, die den Libanon großzügig unterstützt hätten, hätten jetzt das Recht zu wissen, weshalb das explosive Material sechs Jahre an diesem sensiblen Ort gelagert wurde.
Die Elite habe das Vertrauen der Bevölkerung verspielt, sagt die Beiruter Politologin Tamirace Fakhoury. Wenn die religiösen Führer und die selbst ernannten Kriegsfürsten nicht aus den Machtzentralen Beiruts verschwänden, könne das Land nicht zu sich selbst zurückfinden. „Wir brauchen eine Machtablösung und die Integration der jüngeren Generation in die Politik, um der Korruption ein Ende zu setzen“, fordert Fakhoury.
Auch im Westen schwand das Vertrauen in die politische Führung des Landes. Hilfsgelder sollen deshalb nicht über die Regierung, sondern über nichtstaatliche Organisationen, also NGOs, und das Rote Kreuz an die Bevölkerung verteilt werden. Am Sonntag wurden dem Land als Soforthilfe knapp 300 Millionen Dollar in Aussicht gestellt.
Am Mittwoch will sich Außenminister Heiko Maas vor Ort ein Bild von der Lage machen. Neben Soforthilfen braucht der Libanon Gelder für den Aufbau. Diese könnten aber nur fließen, wenn die Reformen, die seit Langem angekündigt seien, eingeleitet würden, so Maas. „Wir werden den Verantwortlichen noch einmal sehr deutlich machen, dass wir bereit sind zu helfen“, sagte Maas.
Diab hatte erst im Januar nach einer monatelangen Hängepartie das Amt des Regierungschefs in dem Land am Mittelmeer übernommen. Er folgte auf Saad Hariri, der nach Massenprotesten Ende Oktober zurückgetreten war. Wegen einer schweren Wirtschaftskrise in seiner Amtszeit und der Corona-Pandemie sind große Teile der libanesischen Bevölkerung in die Armut abgerutscht.
Mit Agenturmaterial
Mehr: Europa sollte Beirut helfen – aber dabei klare Bedingungen stellen, meint Korrespondent Pierre Heumann.
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