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06.04.2022

19:45

Nahost

Überraschung im Parlament: Israels Premier ist nur noch bedingt handlungsfähig

Von: Pierre Heumann

Ein Mitglied der Regierungspartei springt ab, wechselt zu Benjamin Netanjahu – und gefährdet so die Koalition von Naftali Bennett.

Israels Premier ist nur noch bedingt handlungsfähig AP

Naftali Bennett

Die labile Koalition des israelischen Premiers hat in der Knesset mit ihren 120 Abgeordneten nur 61 Sitze.

Tel Aviv Israels Koalition hat am Mittwochmorgen ihre knappe Mehrheit im Parlament verloren. Das Bündnis, mit dem Premier Naftali Bennett seit zehn Monaten regiert, ist zwar nicht auseinandergefallen. Aber es ist nicht mehr in der Lage, Gesetze im Parlament zu verabschieden.

Der ehemalige Hightech-Unternehmer wusste von Anfang an, dass er eine höchst labile Koalition gezimmert hatte. Erstens verfügt sie in der Knesset mit ihren 120 Abgeordneten nur über 61 Sitze. Zweitens ist das Bündnis äußerst bunt zusammengesetzt. Es besteht aus Parteien, deren Ideologien radikal voneinander abweichen. Vertreten sind säkulare und religiöse Fraktionen, Falken und Tauben, Marktwirtschaftler und Sozialdemokraten sowie erstmals eine arabische Partei. Die ideologischen Gegensätze werden unter den Tisch gefegt, um den Bestand der Koalition nicht zu riskieren.

Doch am frühen Mittwochmorgen zündete die Koalitionsvorsitzende Idit Silman eine innenpolitische Bombe. Silman, die auf der Liste von Bennetts „Jamina“-Partei gewählt worden war, legt ihr Amt nieder. Mit Oppositionsführer Benjamin Netanjahu hat sie laut israelischen Medienberichten einen Deal geschlossen, wonach sie bei den nächsten Wahlen auf der Liste seiner Likud-Partei kandidieren wird. Im Gegenzug habe ihr Netanjahu versprochen, dass sie in seiner Regierung das Gesundheitsministerium übernehmen werde.

Netanjahu frohlockt. „Die Tage der Regierung sind gezählt“, sagt er und meint, dass er demnächst ein Bündnis zimmern könne, das aus rechten und religiösen Parteien besteht. Allerdings ist er derzeit nicht in der Lage, eine Koalition unter seiner Führung zu bilden, die in der Knesset eine Mehrheit hätte. Dazu fehlt es ihm an rund einem halben Dutzend Abgeordneten. Deshalb trifft er sich mit weiteren Parlamentariern der aktuellen Koalition, um sie auf seine Seite zu ziehen.

Bennett war von der Ankündigung Silmans, die beim rechten Flügel der israelischen Politik prominent vertreten ist, völlig überrascht worden. Seine Versuche, sie danach telefonisch zu erreichen, verliefen im Sand. Sie verlasse die Koalition, weil „einige Partner nicht bereit seien, Kompromisse einzugehen“, informierte sie später den verblüfften Premier.

Der frühere Regierungschef trifft sich mit weiteren Parlamentariern der aktuellen Koalition, um sie auf seine Seite zu ziehen. action press

Benjamin Netanjahu

Der frühere Regierungschef trifft sich mit weiteren Parlamentariern der aktuellen Koalition, um sie auf seine Seite zu ziehen.

Damit spielte die religiöse Politikerin auf eine an sich nebensächliche Auseinandersetzung mit Gesundheitsminister Nitzan Horowitz von der linken Meretz-Partei an. Er will zulassen, dass während des bevorstehenden Pessach-Festes erstmals seit Jahren Gesäuertes (Chamez) mit in Krankenhäuser gebracht werden darf. Für Silman kommt das einem religiösen Frevel gleich. Es sei an der Zeit, sagt sie, eine „nationale, jüdische und zionistische Regierung“ zu bilden. Sie werde die „Schädigung der jüdischen Identität“ Israels nicht länger unterstützen, begründete sie ihren bevorstehenden Parteiwechsel.

Während des achttägigen Pessach-Festes durften bisher Lebensmittel, die den jüdischen religiösen Vorschriften nicht entsprechen, nicht mit in Kliniken gebracht werden. Die Entscheidung, behauptet Silman, zeige die „Missachtung der religiösen Gefühle von 70 Prozent“ der israelischen Öffentlichkeit.

Auch wenn Bennetts Regierung keine Mehrheit mehr hat, bleibt sie bis auf Weiteres im Amt. Aber sie kann nur noch verwalten, nicht mehr gestalten, weil ihr dazu die Stimme Silmans fehlt. Die Opposition wird nach jedem Gesetzesantrag der Koalition, der scheitert, ein Misstrauensvotum durchsetzen. So will sie Bennetts Regierung „schon bald“ (Likud) zu Fall bringen, um Neuwahlen zu erzwingen.

Doch die Opposition wird sich noch etwas gedulden müssen. Bis zum 8. Mai ist das Parlament in einer Sitzungspause. Erst dann könnte die Opposition ein Misstrauensvotum gegen die Regierung anstrengen. In einigen Monaten, „vielleicht auch früher“, könnte es aber so weit sein, meint ein politischer Beobachter. Sobald ein weiteres Mitglied der Koalition die Regierung verlässt, wäre es unwahrscheinlich, dass die Regierung ein Misstrauensvotum übersteht, worauf Neuwahlen fällig wären.

Die nächste Überläuferin aus Bennetts Partei wird schon gehandelt

Die nächste große Bewährungsprobe für Bennetts Regierung könnte allerdings erst im März 2023 anstehen: Dann müsse sie den Haushalt verabschieden, sagt Yohanan Plesner, Präsident des Israel Democracy Institute. „Wir sind in den politischen Krisenmodus zurückgekehrt, ohne dass dies unmittelbare Auswirkungen hätte“, meint er.

Als nächste Überläuferin aus Bennetts Partei wird Innenministerin Ayelet Shaked, Netanjahus ehemalige Mitarbeiterin, gehandelt. Sie hat jedoch ein gespaltenes Verhältnis zu Netanjahu und seiner Frau Sara. Im vergangenen Jahr gelangten Aufnahmen an die Öffentlichkeit, in denen sie die beiden als „Diktatoren“ und „Tyrannen“ mit „Machtgier“ bezeichnete. Oppositionsführer Netanjahu kümmere sich nur um seinen laufenden Korruptionsprozess, fügte sie hinzu.

Die heterogene Regierungskoalition war im Juni letzten Jahres in erster Linie gebildet worden, um zu verhindern, dass der damaligen Premierminister Netanjahu eine neue Regierung bilden konnte. Der Kompromiss war erst zustande gekommen, nachdem die Bürger über einen Zeitraum von zwei Jahren vier Wahlen ohne eindeutiges Ergebnis hinter sich gebracht hatten.

Bennett weiß, dass er bei Neuwahlen mit größter Wahrscheinlichkeit verlieren würde. Laut Umfragen muss er sogar befürchten, dass er zu wenig Stimmen auf sich vereinigen würde, um weiterhin in der Knesset vertreten zu sein. Deshalb wird er alles daransetzen, Likud-Mitglieder zu sich zu holen oder diejenigen Araber, die seine Koalition nicht unterstützen, für sich zu gewinnen. Es geht darum, die Allianz zusammenzuhalten.

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