Schwedische Soldaten im gemeinsamen Manöver
Die Nato wird größer.
Bild: IMAGO/TT
PremiumDie Nato setzt auf Abschreckung und Eindämmung, um der Bedrohung aus Russland zu begegnen. Auf ihrem Gipfel in Madrid stellt sich die Allianz auf einen neuen Systemkonflikt ein.
Madrid Die Nato stellt sich mit einer umfassenden militärischen Aufrüstung auf die Bedrohung durch Russland ein. „Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat den Frieden zerschlagen“, schreibt die Allianz in einem strategischen Konzept, das die Nato-Staaten am Mittwoch auf ihrem Gipfel in Madrid annahmen. Um ihren Schwur, jeden Zentimeter ihres Bündnisgebiets zu verteidigen, mit der nötigen Kampfkraft zu unterlegen, stockt die Nato ihre schnelle Eingreiftruppe von 40.000 auf 300.000 Soldaten auf.
Darüber hinaus kündigten die USA als Führungsnation der Allianz an, weitere Verbände nach Europa zu verlegen und ein neues Hauptquartier in Polen aufzubauen. Es wäre das fünfte in Europa, aber das erste auf dem Gebiet des früheren Warschauer Pakts.
Dieser Schritt ist von enormer politischer Bedeutung: Die Amerikaner signalisieren damit, dass sie sich nicht mehr an die Beschränkungen für Truppenstationierungen gebunden fühlen, die sich aus der Nato-Russland-Grundakte ergeben. In der Vereinbarung aus dem Jahr 1997 hatte die Nato zugesichert, von der dauerhaften Stationierung größerer Truppenverbände auf dem Gebiet des früheren Warschauer Pakts abzusehen.
Russland drohte nach der US-Ankündigung mit „Ausgleichsmaßnahmen“. Moskau habe Washington im vergangenen Jahr Gespräche über gegenseitige Sicherheitsgarantien angeboten, um ein Eskalationsszenario zu vermeiden, sagte Vize-Außenminister Sergej Rjabkow der Agentur Interfax zufolge.
Diese Chance hätten die USA verpasst, meinte er. „Jetzt führt das, was gerade passiert, ganz sicher zu Ausgleichsmaßnahmen von unserer Seite.“ Details nannte er nicht. Moskau hat in den vergangenen Wochen allerdings schon mehrfach erklärt, seine westlichen Außengrenzen stärken zu wollen.
Die Nato schreibt in ihrer neuen Sicherheitsstrategie, Russland habe mit der „brutalen und rechtswidrigen Invasion“ der Ukraine und den „wiederholten Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht“ die Basis für die Zurückhaltung der Allianz zerstört. „Militärisch und sicherheitspolitisch ist die Grundakte obsolet“, sagt auch der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid. „Sie soll uns nicht daran hindern, das Richtige zum Schutz der Nato-Ostflanke zu tun.“ Gleichzeitig aber sei es vernünftig, dass die Nato die Grundakte nicht offiziell aufkündige, um einen Anknüpfungspunkt für Gespräche mit Moskau zu haben – so sie irgendwann wieder möglich werden.
Russland wird im neuen Nato-Konzept als „bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum“ beschrieben. Das Dokument soll der Allianz in den kommenden zehn Jahren als sicherheitspolitischer Leitfaden dienen. Es ersetzt die Leitlinien, welche die Nato 2010 in Lissabon angenommen hatte. Auf eine „echte strategische Partnerschaft mit Russland“ wollte die Allianz damals noch hinarbeiten.
Davon ist angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine nichts mehr übrig. Die neue Strategie markiert die Rückkehr zum kalten Krieg. „Vor dem Hintergrund ihrer feindseligen Politik und Handlungen können wir die Russische Föderation nicht als unseren Partner betrachten“, heißt es im strategischen Konzept. Russland versuche, „durch Zwang, Subversion, Aggression und Annexion Einflusssphären und direkte Kontrolle aufzubauen“.
Der Ukraine sagte die Nato weitere Unterstützung in ihrem Kampf gegen die russischen Invasionstruppen zu. Man werde der ukrainischen Armee dabei helfen, von altem sowjetischem Material auf modernere Nato-Waffensysteme umzusteigen, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski die 30 Nato-Partner um weitere Militärhilfen gebeten.
Für die Nato ist klar: Eine Verständigung mit der russischen Führung wird auf Jahre hinaus unmöglich bleiben, die Allianz setzt auf Abschreckung und Eindämmung. Was in Madrid beschlossen wurde, ist eine massive, in diesem Umfang noch vor Kurzem kaum denkbare Verstärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit gegen Russland. Ein großflächiger Landkrieg in Europa, das haben die vergangenen vier Monate gezeigt, ist keine Sache der Vergangenheit.
„Wir können die Möglichkeit eines Angriffs auf die Souveränität und territoriale Integrität der Bündnispartner nicht ausschließen“, schreiben die Nato-Länder.
Die Beziehungen zu Moskau könnten sich erst wieder ändern, wenn Russland sein aggressives Verhalten einstelle und das Völkerrecht in vollem Umfang einhalte. Die Allianz wolle aber Kommunikationskanäle mit Moskau offenhalten, um Eskalationsrisiken zu mindern. US-Präsident Joe Biden nannte den Gipfel in Madrid „historisch“ und betonte, die Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nato-Vertrags sei „heilig“.
Vor allem die baltischen Länder fordern mehr Schutz. Im Falle eines Kriegs mit Russland wären sie allein kaum in der Lage, ihre Grenzen zu verteidigen. Faktisch liefen die bisherigen Verteidigungspläne darauf hinaus, dass das Baltikum zunächst überrannt und dann von Nato-Truppen wieder freigekämpft würde. Das wollen die Balten nicht länger hinnehmen.
Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zur Sicherheit des Baltikums zu erhöhen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat angekündigt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, kurzfristig eine Kampfbrigade mit schwerem Kriegsgerät von Deutschland nach Litauen verlegen zu können. 1600 Nato-Soldaten befinden schon seit der Krim-Annexion durch Russland 2014 dort, angeführt werden sie von der Bundeswehr.
Die zusätzliche Brigade würde 3000 bis 5000 Soldaten umfassen. Insgesamt will sich Deutschland an der Stärkung der Nato-Verbände mit 15.000 Soldaten, 35 Flugzeugen und 20 Schiffen beteiligen.
Erstmals widmet sich das Bündnis in seinem strategischen Konzept auch der Herausforderung durch das autoritäre und zunehmend konfliktbereit auftretende China. Die „erklärten Ambitionen der Volksrepublik“ stellten die „Interessen, Sicherheit und Werte“ der Allianz infrage, heißt es in dem Dokument.
Besorgt weist die Nato auf die „wachsende strategische Partnerschaft zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Föderation“ hin und betont, dass China „die Kontrolle über technologische und industrielle Schlüsselsektoren, kritische Infrastrukturen sowie strategische Materialien und Lieferketten anstrebt“.
Über die genauen Formulierungen des China-Absatzes wurde Nato-intern bis zuletzt gerungen. „Ich kann nur aus meiner Erfahrung bei der UN sagen, dass es höchste Zeit ist, dass wir einen kritischeren Blick auf China einnehmen“, sagte Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz, in kleinem Kreis in Madrid. Er war zuvor Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen in New York und saß von 2018 bis 2020 dem UN-Sicherheitsrat vor. „Es wäre naiv für die Nato, zu ignorieren, dass wir da eine systemische Herausforderung haben, deshalb ist das die richtige Antwort.
Neben der Verabschiedung der neuen Strategie gelang es der Nato, den Streit um die Norderweiterung beizulegen. Die Allianz startete offiziell das Aufnahmeverfahren von Finnland und Schweden, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Dienstagabend sein Veto aufgegeben hatte.
Die Aufnahme stärkt die Allianz nicht nur wegen der schlagkräftigen neuen Mitglieder. Sie hat auch entscheidenden symbolischen Wert, weil sie Einigkeit der Allianz demonstriert.
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