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01.02.2023

16:59

Nordirland-Streit

Warum der britische Premier Sunak auf Boris Johnson angewiesen ist

Von: Torsten Riecke, Carsten Volkery

Im jahrelangen Streit über den Handelsverkehr nach Nordirland nähern sich London und Brüssel immer weiter an. Doch Premier Sunak muss noch die harten Brexit-Anhänger in seiner Partei überzeugen.

Dem britischen Premier droht eine Machtprobe mit der Parteirechten. AP

Rishi Sunak

Dem britischen Premier droht eine Machtprobe mit der Parteirechten.

London/Brüssel Der britische Premierminister Rishi Sunak steht vor seiner bislang größten Bewährungsprobe: Großbritannien und die EU sind offenbar kurz davor, ihren jahrelangen Streit über den Handelsverkehr nach Nordirland beizulegen.

Die Verhandlungen insbesondere über die künftigen Zollkontrollen für den Warenverkehr zwischen Großbritannien und seiner nordirischen Provinz sind weit vorangeschritten – auch wenn sowohl die Regierung in London als auch die Kommission in Brüssel einen Bericht der britischen Tageszeitung „The Times“ über eine unmittelbar bevorstehende Einigung noch zurückgewiesen haben.

„Unsere Teams arbeiten daran, eine Lösung bei der Umsetzung des gemeinsamen Rahmens zu finden. Es sind konstruktive Gespräche“, sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in Brüssel. Auch Sunak gab sich optimistisch und sprach während der Fragestunde im britischen Unterhaus in London ebenfalls von einem „konstruktiven Dialog“.

Sollte es zu einem Deal kommen, muss der britische Regierungschef nicht nur die London-treuen Unionisten in Nordirland von einem Kompromiss überzeugen, sondern seine Zugeständnisse auch gegenüber den harten Brexit-Anhängern in seiner Partei rechtfertigen.

Eine Schlüsselrolle könnte dabei Ex-Premier Boris Johnson spielen, der das umstrittene Nordirland-Protokoll im Austrittsvertrag mit der EU ausgehandelt und unterschrieben hat. Sollte Johnson das Verhandlungsergebnis ablehnen und sich an die Spitze einer Rebellion des rechten Flügels in der Parlamentsfraktion stellen, droht eine Machtprobe mit dem amtierenden Premierminister.

Die größten Hürden scheinen beseitigt

Die Gespräche zwischen London und Brüssel befinden sich nach Angaben von Diplomaten in London in einer entscheidenden Phase. Vor Kurzem hatten sich beide Seiten auf den Austausch von Handelsdaten in Echtzeit geeinigt.

Großbritannien und die EU sind sich weiterhin nicht über alle Bedingungen des Brexits einig. dpa

Hafen in Belfast

Großbritannien und die EU sind sich weiterhin nicht über alle Bedingungen des Brexits einig.

Damit scheinen die größten Hürden für eine Zweibahnstraße im Handelsverkehr nach Nordirland aus dem Weg geräumt: Waren aus Großbritannien, die in Nordirland verbleiben sollen, würden weitaus weniger strikt kontrolliert als jene Güter, die über Nordirland in die EU weitergeschickt werden. Das entspricht dem britischen Vorschlag mit einem System von „grünen“ und „roten“ Zollwegen.

Voraussetzung dafür wäre allerding eine entsprechende Kennzeichnung der Waren, die nach Ansicht von Wirtschaftsführern wie Archie Norman, dem Verwaltungsratschef des Handelskonzerns Marks & Spencer, zu „übermäßig hohen und unerschwinglichen Kosten“ führen könnte.

Bislang müssen alle vom Rest Großbritanniens nach Nordirland gelieferten Waren dort beim Eintreffen kontrolliert werden, weil die Provinz nach dem Brexit-Vertrag weiterhin Teil des EU-Binnenmarkts ist. Eine harte Zollgrenze zwischen den beiden Teilen Irlands wollen beide Seiten vermeiden, um keine neuen Spannungen zwischen Unionisten und Nationalisten zu provozieren.

Rolle des EuGH wird zur Nagelprobe

Wesentlich schwieriger ist eine Einigung über die Ausfuhr von Lebensmitteln oder lebenden Tieren. Sollten die Briten die Regeln der EU weiterhin akzeptieren, müssten sie auch in allen künftigen Handelsabkommen mit Drittstaaten diese Standards verankern. Das stößt bei den vor allem auf nationale Souveränität pochenden Brexit-Anhängern ebenso auf Widerstand wie die Idee, Nordirland könnte die EU-Regeln für Staatshilfen beibehalten.

Unsere Teams arbeiten daran, eine Lösung bei der Umsetzung des gemeinsamen Rahmens zu finden. Es sind konstruktive Gespräche. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen

Zur Nagelprobe könnte die künftige Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) werden, der das letzte Wort bei rechtlichen Fragen im EU-Binnenmarkt hat. Die harten Brexit-Anhänger in London lehnen bislang alle Kompromisse ab, die dem EuGH auch künftig eine Zuständigkeit in Nordirland geben würden. Sunak ist sich dieser roten Linie bewusst und versicherte am Mittwoch, er werde alles tun, um die Souveränität Nordirlands als Teil des Vereinigten Königreichs zu gewährleisten.

Ob ein zweistufiges Verfahren, über das in London spekuliert wird und bei dem die europäischen Richter erst eingreifen können, wenn sie von einer in Nordirland vorgeschalteten Instanz angerufen werden, ein Ausweg aus der Sackgasse wäre, ist unklar. In Brüssel heißt es dazu: Die Kommission bestehe unverändert darauf, dass der Europäische Gerichtshof die letzte Instanz für alle Binnenmarktfragen in Nordirland bleibe.

Die Gefahr ist, dass der Streit über den EuGH von Brexit-Anhängern und nordirischen Unionisten genutzt wird, um eine Einigung zu blockieren. Jeffrey Donaldson, Chef der Democratic Unionist Party (DUP), pochte in Belfast auf die verfassungsrechtliche Zugehörigkeit Nordirlands zu Großbritannien – was mit einer Zuständigkeit des EuGH kaum vereinbar wäre. Die DUP will erst den Weg für die Bildung einer Regierung im Regionalparlament in Belfast frei machen, wenn das Nordirland-Protokoll in ihrem Sinne überarbeitet oder gekippt wird.

Sunak möchte den Dauerstreit mit Brüssel zwar endlich vom Hals haben, kann sich bislang jedoch nicht aus der politischen Geiselhaft der Parteirechten befreien. Sein Vorvorgänger Johnson betont zwar offiziell, er stehe loyal hinter dem Regierungschef. Der Hasardeur dürfte jedoch kaum vergessen haben, dass Sunak mit seinem Rücktritt als Finanzminister im Frühsommer 2022 erst den Sturz Johnsons eingeleitet und dann im Herbst dessen Comeback als Premier verhindert hat.

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