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02.12.2021

15:09

Österreich

„Meine Leidenschaft ist ein Stück weit weniger geworden”: Sebastian Kurz zieht sich aus der Politik zurück

Von: Ivo Mijnssen

Der Ex-Kanzler gibt all seine politischen Ämter auf. Er begründet den Schritt damit, sich mehr auf die Familie fokussieren zu wollen.

Österreichs Ex-Kanzler hat seine politische Karriere beendet. AP

Sebastian Kurz

Österreichs Ex-Kanzler hat seine politische Karriere beendet.

Wien Sebastian Kurz, 35, der einstige Überflieger der österreichischen Politik, hat am Donnerstagmittag seinen Rückzug aus der Politik erklärt. Passenderweise hatte Österreichs Ex-Kanzler zwei ihm stets wohlgesinnte Boulevard-Medien bereits informiert, bevor er den Schritt der restlichen Öffentlichkeit erklärte.

„Die heutige Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen“, sagte der bisherige ÖVP-Chef. Dennoch habe er keine Schwermut empfunden. Zwar sei es „wunderschön“, etwas bewegen zu können. Gleichzeitig müsse man aber als Politiker an jedem Tag so viele Entscheidungen treffen, dass bereits an jedem Morgen klar sei, dass darunter auch falsche sein würden. Er blicke auf eine zehnjährige Karriere in der Spitzenpolitik zurück: „Ich bin für diese Zeit extrem dankbar.“

Er habe sich stets für seine Überzeugungen eingesetzt und zusammen mit seinem Team sehr viel gearbeitet. Und doch habe er das Gefühl gehabt, „gejagt“ worden zu sein, betonte Kurz. Dieser Umstand habe ihn zwar dazu motiviert, jeden Tag „Höchstleistung“ zu erbringen. In den vergangenen Jahren sei ihm jedoch kaum Zeit für etwas anderes geblieben, manches sei vernachlässigt worden, „insbesondere die eigene Familie“.

Bei der Geburt seines Kindes sei ihm bewusst geworden, wie viel Wichtiges es außerhalb der Politik gebe. Die vergangenen Jahre sei er mit 100 Prozent Begeisterung seiner Arbeit nachgegangen. „Meine Leidenschaft für Politik ist ein Stück weit weniger geworden“, sagte der Ex-Kanzler. Die Entwicklungen der vergangenen Monate hätten sicherlich dazu beigetragen.

Der 35-Jährige war Anfang Oktober nach Korruptionswürfen zurückgetreten, da er für seinen grünen Koalitionspartner und auch für Teile seiner Österreichischen Volkspartei (ÖVP) untragbar geworden war. Sein Nachfolger ist seitdem Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP). Kurz blieb aber Parteichef und übernahm den ÖVP-Fraktionsvorsitz im Parlament. Bis jetzt. Neuer ÖVP-Chef solle Innenminister Karl Nehammer werden.

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Politisch zum Verhängnis geworden waren Kurz eine Affäre um eine mutmaßlich gekaufte Berichterstattung im Boulevardblatt „Österreich“ sowie seine Art und Weise, in der er sich mit Vertrauten über Gegner und Parteifreunde geäußert hatte. Zuvor war gegen ihn ein Verfahren wegen Falschaussage vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Nachgang zur „Ibiza“-Affäre eingeleitet worden.

In seiner Rücktrittserklärung sagte Kurz, „die Abwehr von Vorwürfen, Anschuldigungen, Unterstellungen und Verfahren“ sei für ihn kräfteraubend gewesen. Klarer als auch schon früher räumte er ein, Fehler gemacht zu haben und teilweise den eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein. Kurz war einst mit dem Versprechen angetreten, in Österreichs Politik einen neuen Stil ohne die üblichen Manipulationen und Intrigen einzuführen.

Dass davon zuletzt wenig übrig blieb, brachte er am Donnerstag selbst auf den Punkt: „Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher. Ich bin ein Mensch.“ Kurz’ politische Karriere hatte bereits in dessen Jugend begonnen: Als Teenager trat er der ÖVP bei und machte dort rasch Karriere in der Jugendorganisation. Durch geschickte Kaderpolitik und einen gehörigen Schuss Rücksichtslosigkeit gelang ihm 2017 die Übernahme der kriselnden Partei.

Unbestritten ist, dass der Wiener das größte politische Talent seiner Generation darstellt. 

Kurz führte die ÖVP klar nach rechts

Nachdem er bereits vier Jahre zuvor Außenminister geworden war, stieg er 2017 nach dem durch ihn herbeigeführten Bruch der Koalition mit den Sozialdemokraten zum Kanzler auf.

Er regierte zwei Jahre lang mit den rechtspopulistischen Freiheitlichen, bevor er diese Partnerschaft nach der Publikation des „Ibiza“-Videos beenden musste. 2019 gewann die ÖVP unter ihm die vorgezogene Parlamentswahl erneut, weshalb eine Koalition mit den deutlich kleineren Grünen möglich wurde. Diese hält trotz periodischer Krisen bisher fast zwei Jahre.

Kurz führte die ÖVP klar nach rechts, wobei die harte Migrationspolitik zum Kern seiner politischen Marke wurde. In anderen Bereichen zeigte er sich deutlich wandelbarer, etwa bei der Budgetdisziplin oder bei Umweltthemen.

Seine Coronapolitik war ebenso widersprüchlich wie jene vieler anderer Staaten: Zunächst sorgte er für harte Maßnahmen, bevor er Anfang 2021 auf eine deutlich liberalere Strategie setzte, welche die Interessen der Wirtschaft stärker priorisierte.

Dass er im Sommer mehrfach voreilig das Ende der Pandemie verkündete, wird ihm nun, da das Land nach langem Zögern erneut im Lockdown gelandet ist, besonders angekreidet.

Der Rückzug aus der Politik kommt dennoch überraschend, war doch spekuliert worden, er plane ein Comeback, sobald die Vorwürfe gegen ihn gerichtlich geklärt würden. Offenbar hat er eingesehen, dass dies eher eine Sache von Monaten oder Jahren denn von Wochen ist. Zur Einsicht trugen wohl auch die katastrophalen Umfragewerte seit Oktober bei. Eine Rückkehr zu einem späteren Zeitpunkt ist nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlicher geworden.

Bis auf Weiteres muss die ÖVP ihre Zukunft ohne ihren Star planen. Kurz tritt als Fraktionsführer zurück, und am Freitag soll der Vorstand der ÖVP einen neuen Parteichef wählen. Spekuliert wird, dass Innenminister Karl Nehammer dieses Amt übernehmen könnte. Hinter den Kulissen heißt es, dieser könnte in einem weiteren Schritt auch Alexander Schallenberg als Bundeskanzler ersetzen, da die beiden Funktionen traditionell in einer Hand liegen.

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