Mit 22 Jahren zog die Britin in einen einsamen Kampf gegen die wortmächtigen EU-Skeptiker. Jetzt wird sie in ihrem Land zur nationalen Angelegenheit erklärt.
Madeleina Kay
Die junge Britin steht stellvertretend für eine neue Generation politischer Aktivisten.
Bild: imago images / ZUMA Press
Düsseldorf Madeleina Kay legt die Gitarre zur Seite, blinzelt in die Morgensonne. Der Minirock, geschneidert aus einer Europaflagge, hilft kaum gegen den kühlen Wind, und so wirft sie sich ihren mit Union-Jack-Symbolen übersäten Mantel über. Mit den Goldschuhen, dem blau-blonden Haarschopf und dem Superheldinnen-Kostüm wirkt sie so, als sei der Karneval zurückgekehrt in die Düsseldorfer Altstadt. Ein Passant, mit Einkaufstüten bepackt, bittet um ein Foto. Kay greift nach ihrem Schild mit der Aufschrift „Stoppt den Brexit, Ihr blamiert uns alle“ und lächelt in Richtung Smartphone.
Was in Düsseldorf kaum jemand weiß: Madeleina Kay gilt in ihrem Land als „EU-Supergirl“ und ist als solches längst eine nationale Angelegenheit. Seit sie vor zwei Jahren in Brüssel kostümiert in den Pressesaal der EU-Kommission stürmte und zum Entsetzen von Hausherr Jean-Claude Juncker ihre ganz eigene Brexit-Ansprache an die Reporter hielt, wird sie in Großbritannien wahlweise für verrückt erklärt oder zur Nationalheldin erhoben.
Alles begann 2016, in dieser Nacht zum 24. Juni, als die Nachricht vom „Out“ der Briten ihr Bewusstsein rammte. Nach dem Referendum entschied Madeleina Kay, ihr Studium der Landschaftsarchitektur abzubrechen, um sich aufzulehnen gegen das, was sie für Irrsinn hielt. Was dann begann, war der einsame Kampf einer jungen Frau gegen wortmächtige Gegner, gegen das große Räderwerk der Politik – und gegen das Gift der britischen Boulevardpresse, die den Brexit zu ihrer Mission erklärt hat.
Einerseits. Andererseits entwickelte sie sich zur Lichtgestalt jener, die Teil von Europa bleiben wollen. Und zur Hoffnung derer, die nur noch angewidert sind von den qualvollen Debatten, die ihren Glauben an die Gestaltungsmacht der Politik verloren haben. Sie verehren Kay als eine britische Jeanne d’Arc der Postmoderne.
In diesem Frühjahr, gerade feierte sie ihren 25. Geburtstag, bringt sie Aufkleber unter die Leute, die ihre Überzeugung auf den Punkt bringen. „Bollocks to Brexit, it’s not a done Deal“, steht darauf – schwarze Schrift auf gelbem Grund. Diese Botschaft hat sie neulich auch dem britischen EU-Abgeordneten Nigel Farage überbracht, und der war „not amused“. Farage bringt gerade seine neue Brexit-Partei an den Start und lief ihr in einer Brüsseler Kneipe über den Weg, er in Nadelstreifen, sie im Superheldinnen-Kostüm. Sie sei von einem zweiten Referendum überzeugt, davon, dass sich die Leute besinnen, habe sie ihm gesagt und ihn dabei „ganz schön in die Mangel genommen“.
'We Won't Go Down Without A Fight!' 🇪🇺🇬🇧✊#StopBrexit Battle Track: https://t.co/DhyhrHCOnb
— 🌟Madeleina Kay🌟#EUsupergirl 🇪🇺🇬🇧 (@MadeleinaKay) 1. April 2019
🇬🇧🎶🎸🎼🇪🇺
With thanks to:@DaveRowntree on drums@GuyPratt on bass
Mastering by @Miles_Showell
Music video @JeffKew pic.twitter.com/EVqdDdAts6
Kürzlich, vor Westminster Palace, sei das wie eine Erleuchtung über sie gekommen. Da sang sie ihr Lied „Don‘t hold Back“, als Europaskeptiker Boris Johnson mit Aktenkoffer und Grabesmiene vorbeieilte. Die Menge habe gefeixt und ihm hinterhergerufen: „Hey Boris, das werden verdammt schwierige Zeiten für dich.“ Kay zieht die grellrot geschminkten Lippen zum Kussmund zusammen und lacht. Es sind Szenen wie diese, die sie bestärken.
Kay redet sich gerade warm, da steuert eine Frau – kurze graue Haare – auf sie zu, und stellt sich mit einem einzigen Satz vor: „I‘m your Groupie.“ Susan Brockhurst lebt im englischen Pembrokeshire und besucht gerade ihre Tochter in Düsseldorf. Und weil sie jeden Schritt des EU-Supergirls auf Twitter verfolgt, ist sie nun hierhergekommen in die Altstadt. Brockhurst runzelt die Stirn und geht sofort zum Angriff auf ihre Generation über. „Wir Alten haben für den Brexit gestimmt, aber es sind die Chancen der Jungen, die wir zerstören.“ Dann blickt sie Kay intensiv in die Augen. „Für mich bist du die Stimme der Zukunft“, sagt sie, umarmt die kunterbunte Erscheinung und zieht weiter.
Tatsächlich steht Kay für eine neue Generation von Aktivistinnen, die sich daranmachen, die Welt zu verändern. Die als Einzelkämpfer starten und zu Ikonen neuer, locker vernetzter Bewegungen aufsteigen. Die auf Twitter, Instagram und Youtube Millionen erreichen. Die gebildet sind und international agieren. Fridays-for-Future-Organisatorin Luise Neubauer zählt zu diesen Polit-Influencern, die Klima-Aktivistin Greta Thunberg sowieso und auch Agnes Becker, die mit ihrem Bienen-Volksbegehren in Bayern die konventionelle Landwirtschaft in Angst und Schrecken versetzte.
Wie sie alle, ist Madeleina Kay scheinbar überall. Vorgestern London, gestern Brüssel, heute Düsseldorf. Kay entfacht mit ihrer multimedialen Dauerpräsenz mehr PR-Dynamik als viele Konzerne. Da sind ihre politischen Reden, etwa das Plädoyer für ein gemeinsames Europa vor dem EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss im Januar. Da sind ihre Inszenierungen als EU-Supergirl. Da sind ihre Kinderbücher, die sich mit Titeln wie „Theresa Maybe in Brexitland“ nicht nur an Kinder richten. Da ist ihr Bollocks-to-Brexit-Kampagnenbus, der sie jeden Monat Tausende Pfund kostet, was ohne intensives Crowdfunding nicht zu finanzieren wäre.
Und da sind ihre Songs. Gerade ist „We won‘t go down without a fight“ erschienen, begleitet von Pink-Floyd-Bassist Guy Pratt und Blur-Schlagzeuger Dave Rowntree. „Das Lied verwandelt die härtesten Brexiteers in Remainers“, sagt sie.
Das ist durchaus ironisch gemeint und spielt auf eine böse Kampagne der nationalkonservativen Londoner Boulevardzeitung „Daily Express“ an. Die hatte Hass-Tweets ihrer Gegner veröffentlicht, die behaupten, der Song sei so grauenhaft, dass er Europafreunde in Europafeinde verwandele. Aber die Boulevardpresse und das EU-Supergirl werden ohnehin keine Freunde mehr, und dass ihr Internet-Trolle die Pest an den Hals wünschen, daran hat sie sich längst gewöhnt.
Mit ihrem Vater, einem Universitätsdozenten, lebt Kay in der mittelenglischen Stadt Sheffield. Früher brachten dort Hochöfen den Nachthimmel zum Glühen, doch dann verwandelten sich die Stahlwerke in rostige Ruinen, während in den Problemvierteln die Armut wucherte. Kay selbst spricht die Sprache der Mittelschicht, ein pointiertes Englisch ohne lokalen Akzent.
Und doch ist sie groß geworden mit den Abgehängten, die Sheffield zur Stadt der Europaskeptiker machten. „Das ist paradox“, sagt Kay. „Viele haben hier für den Brexit gestimmt und wären diejenigen, die darunter am meisten leiden würden.“ Kay sieht sie als Opfer von Demagogie. „Wir müssen erklären, warum wir alle jeden Tag von Europa profitieren.“ Dafür hat sie eine Broschüre verfasst mit dem Titel „24 Gründe zu bleiben“. Die drückt sie jedem in die Hand, der sie nicht gerade wüst beschimpft.
Neben ihr hat sich ein Akkordeonspieler niedergelassen; er lässt sein Instrument kunstvoll wimmern und schluchzen. Melancholische Klänge aus dem Osten Europas, gegen die Kay gerade nicht ansingen möchte. Ihre Zukunftspläne? Zum Studieren wird sie keine Zeit mehr haben.
Auch wenn der Brexit bezwungen ist, will sie weiter für Europa kämpfen – so lange das Crowdfunding sie trägt. „Themen gibt es genug, etwa den wachsenden Populismus.“ Dann hebt sie ihre Faust in den blauen Düsseldorfer Himmel und sagt: „Europa braucht das Supergirl.“
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