Die Klage des Europaparlaments ist politisch richtig, aber juristisch fragwürdig – denn der Streit zwischen Brüssel und Warschau ist komplex. Eine Analyse.
Ursula von der Leyen
Die EU-Kommission nutzt nicht alle Möglichkeiten, die sie hat, um den Rechtsstaat in Polen zu schützen.
Bild: REUTERS
Brüssel Erst am Mittwoch hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) Polen dazu verurteilt, pro Tag eine Million Euro Strafe zu zahlen. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Warschau den Rechtsstaat teilweise außer Kraft setzt.
Nun aber wird die EU-Kommission vom Europaparlament selbst verklagt, weil sie kein entsprechendes Verfahren gegen Polen einleitet. Um diesen juristischen Schritt zu verstehen, muss man die verschiedenen Ebenen auseinanderhalten, auf denen sich der Streit zwischen Brüssel und Warschau abspielt:
Eine dieser Ebenen ist die Klage der EU-Kommission wegen der 2018 von der polnischen Regierung eingesetzten Disziplinarkammer, die die Entlassung unliebsamer Richter veranlassen kann. Diese Klage hat die Kommission gewonnen. Sie ist der Grund, warum Polen Strafe zahlen muss.
Parallel dazu sind sich die EU und Polen uneinig, ob Polen Geld aus dem Corona-Wiederaufbaufonds erhalten sollte. Dabei geht es nun um den neuen Rechtsstaatsmechanismus – eine weitere Ebene der Streitigkeiten. Dieser gilt erst seit dem 1. Januar dieses Jahres. Er sieht vor, dass EU-Gelder gekürzt werden können, wenn ein Missbrauch dieser Gelder droht.
In Polen ist das möglicherweise der Fall. Denn wenn es keine unabhängige Justiz gibt, fehlt die Kontrolle. Auch in Ungarn gibt es Bedenken – wegen Korruption. Diese Vorwürfe sind der Kommission gut bekannt. Sie hat sie selbst erhoben in ihren Rechtsstaatsberichten.
Es ist also alles vorbereitet, um gegen Polen vorzugehen und Haushaltsgelder einzubehalten. Das wäre schneller und schmerzhafter als das, was die EU-Kommission bisher vor Gericht erreicht hat. Trotzdem passiert nichts. Der Grund dafür ist, dass die EU-Mitgliedstaaten bremsen.
Polen und Ungarn haben gegen den Rechtsstaatsmechanismus geklagt. Die Mitgliedstaaten warten auf ein Ergebnis und wollen bis dahin nicht, dass die Kommission ihn aktiviert. Politisch lässt sich das begründen: Es wäre sehr misslich, wenn die EU-Kommission gegen Polen und Ungarn vorgeht, dann aber alles stoppen muss, weil deren Klage Erfolg hat.
Juristisch ist es allerdings fragwürdig. Es ist die Aufgabe der Kommission, gegen Rechtsstaatsvergehen vorzugehen. Darum muss sie es auch tun. Dass sie es nicht tut, ist eine Unterlassung. Dagegen zu klagen ist berechtigt.
Und trotzdem hat das Europaparlament keine besonders großen Aussichten auf Erfolg. Denn es hat einen Fehler gemacht: Seine Klage ist extrem schwammig formuliert, beanstandet der juristische Dienst des Europaparlaments selbst: „Es besteht die Gefahr, dass die Klage innerhalb weniger Wochen abgewiesen wird“, heißt es in seinem Gutachten.
Der Grund: Die Parlamentsabgeordneten sagen nur allgemein, dass die Kommission tätig werden soll. Sie hätten aber klarmachen müssen, gegen wen die Kommission eigentlich konkret vorgehen soll und wegen welchen Vergehens.
Die Abgeordneten wissen das. Dass sie es trotzdem versuchen, ist wieder nur politisch zu erklären: Sie wollen Druck machen, das Thema warm halten, es in die Öffentlichkeit bringen. In Polen und Ungarn soll nicht der Eindruck entstehen, dass man die Verletzungen des Rechtsstaats einfach aussitzen kann. Wenn das Parlament seine Klage verliert, könnte es aber genau dazu beitragen.
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