PremiumErst mit Verzögerungen ist der schwer verletzte Oppositionspolitiker nach Deutschland ausgeflogen worden. Russland steht zunehmend in der Kritik.
Berlin Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Vizekanzler Olaf Scholz (beide SPD) und weitere führende deutsche Politiker haben eine umfassende Aufklärung des mutmaßlichen Giftgasanschlags auf den führenden russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gefordert. Samstagfrüh kam er in die Berliner Klinik Charité.
Es dauerte einen Tag, bis geklärt werden konnte, ob der im Koma liegende 44-Jährige überhaupt nach Deutschland ausgeflogen werden darf. Seine Frau Julia und führende Mitarbeiter besuchten den prominenten Antikorruptionskämpfer bereits in der Charité. Er werde beatmet, und seine Lage sei stabil, erklärten sie. Über die Hintergründe zum mutmaßlichen Giftanschlag wollten seine Mitstreiter am Sonntag vorerst nichts weiter sagen.
Nawalny war am Donnerstagfrüh bei seinem Rückflug aus dem sibirischen Tomsk nach Moskau im Flugzeug zusammengebrochen. Bei einer daraufhin eingelegten Zwischenlandung in Omsk wurde er bewusstlos in ein örtliches Krankenhaus gebracht.
Nachdem Sicherheitsbeamte anfangs von einem in seinem Organismus gefundenen Giftstoff gesprochen hatten, nannten die Ärzte später Stoffwechselstörungen als Ursache für den Zusammenbruch. Aus Moskau wurden zuvor spezialisierte Ärzte nach Omsk geflogen. Sie wollten Nawalny jedoch stundenlang nicht ausfliegen lassen. Laut russischen Medienberichten soll wegen des Nachtflugverbots in Berlin-Tegel der Abflug aus Omsk weiter verzögert worden sein.
Der Filmproduzent Jaka Bizilj, der den Transport zur Behandlung in der Charité organisiert hatte, äußerte sich am Sonntagabend zu Nawalnys Gesnundheitszustand: Er geht davon aus, dass Nawalny überleben wird. Im Politik-Talk „Die richtigen Fragen“ auf „Bild live“ sagte Bizilj: „Aus meiner Sicht ist die entscheidende Frage, ob er das unbeschadet übersteht und seine Rolle weiter einnehmen kann.“ In diesem Fall sei Nawalny aber sicherlich mindestens ein, zwei Monate politisch außer Gefecht.
Die Sprecherin des Kremlgegners, Kira Jarmysch, zeigte sich erstaunt über diese Mitteilung. Niemand habe im Moment Zugang zu Informationen über den Zustand Nawalnys – schon gar nicht jemand, der nicht zur Familie gehöre. „Die Familie Alexejs hat niemanden beauftragt, der Presse etwas mitzuteilen über seine Gesundheit“, schrieb sie im Nachrichtenkanal Telegram am frühen Montagmorgen. „Im Moment gibt es keine neuen Einzelheiten zu Alexejs Gesundheit. Wir bitten alle darum, Geduld zu bewahren und nicht auf unwahre Mitteilungen zu reagieren“, meinte sie. Autorisierte Informationen könne es nur von den Ärzten oder von ihr selbst geben, betonte Jarmysch.
Das ZDF berichtete, dass Nawalny als „Kanzlerin-Gast“ in der Charité derzeit schwer bewacht werde. Er steht unter dem Schutz des Bundeskriminalamts (BKA). „Der polizeiliche Schutz von Alexej Nawalny wurde zunächst durch den Bund übernommen“, sagte ein Regierungssprecher der Deutschen Presse-Agentur am Sonntagabend. Grundlage sei Paragraf sechs des BKA-Gesetzes.
Das Bundeskriminalamt ist laut Gesetz unter anderem zuständig für den Personenschutz von Mitgliedern der Bundesregierung, aber auch von ausländischen Gästen, beispielsweise bei Staatsbesuchen. In Regierungskreisen hieß es, über diese Regelung im BKA-Gesetz sei es möglich, in dem Fall zu helfen. Den Transport nach Berlin haben Boris Simin und „Dynastie“ bezahlt, ein Fonds seines Vaters Dmitri Simin, der Gründer des russischen Mobilfunkunternehmens Beeline. Organisiert wurde die Aktion von der Menschenrechtsorganisation Cinema for Peace.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zwang mit einer Eilentscheidung das Krankenhaus in Omsk, die Krankenhausakte an Nawalnys Frau herauszurücken. Nawalnys Mitstreiter werfen dem Kreml einen Giftanschlag auf Nawalny vor. Um seine Spuren zu verschleiern, habe der Kreml die Ausreise des Oppositionspolitikers nach Deutschland verzögert, so ihre Argumentation.
Vor dem Anschlag in Sibirien sei der 44-Jährige umfassend vom Geheimdienst überwacht worden. Nawalny gilt als einer der schärfsten Kritiker von Kremlchef Wladimir Putin. Immer wieder prangerte er Korruption in Staatskonzernen und bei der politischen Führung an.
In Deutschland mehrt sich die Kritik am Umgang mit Oppositionellen in Russland. „Wir werden deutlich machen, dass wir als Demokraten es nicht akzeptieren, dass das Leben von Oppositionellen in Gefahr gebracht wird“, sagte Scholz der „Neuen Westfälischen“.
Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Dirk Wiese (SPD), forderte Aufklärung. „Der Vorwurf der Vergiftung steht im Raum.“ Deshalb fordere er die russischen Behörden auf, den Fall „glaubwürdig, transparent und kooperativ aufzuklären“, erklärte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
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