Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

21.09.2022

14:10

Russland

Putin will für Teilmobilmachung 300.000 Reservisten einberufen

Von: Christoph Herwartz, Pierre Heumann, Mareike Müller

Russlands Präsident hat eine Teilmobilmachung angeordnet und droht mit Atomwaffen bei weiteren Rückeroberungen. Kremlkritiker rufen zum Protest auf, Kiew reagiert mit Spott.

Wladimir Putin AP

Wladimir Putin

Russlands Präsident verkündet in einer Ansprache die Teil-Mobilmachung.

Brüssel, Tel Aviv, Riga Die zuletzt mehrfach in Gefechten unterlegenen russischen Streitkräfte in der Ukraine sollen durch eine Teilmobilmachung mit 300.000 zusätzlichen Soldaten verstärkt werden. Kremlchef Wladimir Putin sagte in einer Fernsehansprache am Mittwochmorgen, er habe auf Vorschlag des Verteidigungsministeriums ein entsprechendes Dekret unterschrieben. Die Teilmobilmachung beginne noch am gleichen Tag.

Zugleich drohte Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen: Russland werde alle Mittel einsetzen, um seine territoriale Unversehrtheit zu schützen, sagte er. Gemeint ist damit offensichtlich auch die ukrainische Halbinsel Krim, die Russland seit 2014 als Teil seines Staatsgebiets betrachtet.

Auch die seit Jahren von Separatisten beherrschten Gebiete in den Regionen Luhansk und Donezk sowie Cherson könnten sich demnächst der Russischen Föderation anschließen. Die Separatisten wollen die Bevölkerung noch in dieser Woche darüber abstimmen lassen.

Putin unterstützt Scheinreferenden

Das Ergebnis wird international nicht anerkannt werden, weil die Bedingungen für eine freie und faire Abstimmung nicht gegeben sind. Putin hat aber angekündigt, die Scheinreferenden zu unterstützen.

Das hastige Vorgehen sei ein Zeichen dafür, dass Putin fürchtet, die militärische Kontrolle über Luhansk und Teile der südlichen Ukraine zu verlieren, sagte die Militärexpertin Stefanie Babst dem Handelsblatt.

Die russische Politologin Tatjana Stanowaja meint, dass die Abstimmungen Putin die Möglichkeit geben sollen, die Territorien unter Androhung des Einsatzes von Atomwaffen zu verteidigen. Damit habe er den Einsatz in dem Krieg deutlich erhöht. Russland hatte seinen Einmarsch in der Ukraine unter anderem mit der „Befreiung“ der Gebiete Donezk und Luhansk begründet.

Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu IMAGO/ITAR-TASS

Sergei Schoigu

Der Verteidigungsminister von Russland erklärt, dass 300.000 Menschen teilmobilisiert werden.

Durch die Teilmobilmachung werden nicht alle kampffähigen Russen eingezogen, sondern nur die Reservisten der Armee. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu sprach von rund einem Prozent der Ressourcen von 25 Millionen.

Die neuen Truppen sollen den gleichen Status und die gleiche Bezahlung bekommen wie Vertragssoldaten, die bereits jetzt im Einsatz sind. Sie sollen vor dem Fronteinsatz noch einmal militärisch geschult werden. Gerade die Ausrüstung und Ausbildung mache Russland aber seit sieben Monaten große Probleme, so Babst. Die Aufstockung bedeute also nicht automatisch, dass sich damit die Kampfkraft der russischen Verbände verbessern werde.

„Ich bezweifle, dass eine Aufstockung der Truppen Putin mehr helfen wird als Bush im Irak und Obama in Afghanistan“, sagte der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld dem Handelsblatt.

Nun sollen auch Reservisten eingezogen werden. IMAGO/SNA

Soldaten in der von Russland besetzten Region Donezk verfolgen die Ansprache von Präsident Wladimir Putin

Nun sollen auch Reservisten eingezogen werden.

Lettlands Außenminister rechnet offenbar damit, dass Russen versuchen werden, sich der Einberufung zu entziehen. Sein Land werde „aus Sicherheitsgründen“ keine humanitären Visa ausstellen und die Einschränkungen des Grenzverkehrs nicht ändern, schrieb Edgars Rinkēvičs bei Twitter.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sprach von einem Eingeständnis des Scheiterns. Putin und Schoigu hätten bereits Zehntausende ihrer Bürger in den Tod geschickt, schlecht ausgerüstet und schlecht geführt. „Keine noch so großen Drohungen und Propaganda können über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt, die internationale Gemeinschaft sich einig ist und Russland zu einem globalen Paria wird.“

Bundeskanzler Olaf Scholz sieht die russische Teilmobilmachung als Zeichen der Schwäche. „Die jüngsten Entscheidungen der russischen Regierung sind ein Akt der Verzweiflung“, sagte Scholz am Rande der UN-Vollversammlung in New York. „Russland kann diesen verbrecherischen Krieg nicht gewinnen.“ Präsident Wladimir Putin habe die Situation völlig unterschätzt.“ Auch die Scheinreferenden in den besetzten Gebieten in der Ukraine würden niemals akzeptiert.

Aufruf zum Protest

Kiew reagierte mit Spott. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, fragte auf Twitter: „Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?“ Der für drei Tage geplante Krieg dauere bereits 210 Tage.

Sein Kollege Olexij Arestowytsch schrieb, dass die hohen Verluste Russland zu dieser Maßnahme zwingen. „Es sind mehr als 100.000 Getötete und Verwundete, eher knapp 150.000.“ Moskau hatte am Mittwoch von 5937 toten eigenen Militärangehörigen seit Kriegsbeginn gesprochen. Auch unabhängige Beobachter halten die realen Verluste aber für ein Vielfaches höher.

Russland

Putin verkündet Teilmobilmachung: „Das ist kein Bluff“

Russland: Putin verkündet Teilmobilmachung: „Das ist kein Bluff“

Ihr Browser unterstützt leider die Anzeige dieses Videos nicht.

Das kremlkritische russischsprachige Nachrichtenportal Meduza teilte auf seinem Telegram-Kanal einen Aufruf zu einer Demonstration, organisiert von der Gruppe „Vesna“ (Frühling), die für 19 Uhr in den Zentren aller russischen Städte stattfinden soll. Im Aufruf heißt es, dass Tausende russischer Männer, „unsere Väter, Brüder und Ehemänner“, in die „Fleischmühle“ des Krieges geworfen würden.

Kirill Martynov, Chefredakteur der europäischen Ausgabe der kremlkritischen Zeitung Novaya Gazeta, schrieb auf Twitter: „Wladimir Putin hat den teilweisen Tod der Russischen Föderation erklärt.“

Seit einigen Tagen wurden sogar im russischen Staatsfernsehen kritische Fragen zum Sinn der „Spezialoperation“ in der Ukraine gestellt. Auch wenn man diese laut Historiker van Creveld nicht überbewerten dürfe: Die wachsende interne Kritik sei schon in den vergangenen Tagen unüberhörbar gewesen. Putin wurde in mehreren offenen Briefen und Videobotschaften zum Rücktritt aufgefordert.

Noch sei allerdings kein Ende des Kriegs abzusehen, meint van Creveld. Es gehe jetzt vor allem darum, wer am längsten durchhalten könne, wenn der Krieg immer mehr zu einem Abnutzungskrieg wird. Russland habe da die größeren Reserven. Dass die Ukrainer jetzt Erfolge habe, heiße deshalb noch lange nicht, dass sie den Krieg rasch gewinnen werde. „Letztlich wird es von wirtschaftlicher Hilfe und der politischen Unterstützung abhängen, die eine der beiden Seiten erhält.“

Die Expertin Babst sagt prägnant: „Wir stehen immer noch relativ am Anfang eines langen Konfliktes mit Russland.“

Ukraine-Karte vom 20. September 2022

Mit Agenturmaterial

Kommentare (28)

Selber kommentieren? Hier zur klassischen Webseite wechseln.  Selber kommentieren? Hier zur klassischen Webseite wechseln.

Account gelöscht!

21.09.2022, 10:56 Uhr

Herr Beeger, Sie sagen es. Mal wieder.

Vorher war es ein regionaler Konflikt, jetzt weitet es sich langsam aus.

(Beitrag von der Redaktion editiert. Bitte achten Sie auf unsere Netiquette: Unterstellungen und Verdächtigungen ohne Bezug oder glaubwürdige Argumente, die durch keine Quellen gestützt werden, sind nicht erwünscht.)

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×