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16.08.2022

04:00

Serie: Die neue Weltwirtschafts(un)ordnung

Nur noch Handel mit Freunden – Warum das „Friendshoring“ eine gefährliche Idee ist

Von: Carsten Volkery

Der Westen sucht die Unabhängigkeit von China und Russland. Deshalb sollen Lieferketten nun in befreundete Länder verlagert werden. Doch der Kurswechsel im Außenhandel ist umstritten.

Die Grenzen des Friendshorings sind schwimmend: Wer gilt als Freund? Demokraten? Oder manchmal auch Autokraten?

Die neue Weltordnung

Die Grenzen des Friendshorings sind schwimmend: Wer gilt als Freund? Demokraten? Oder manchmal auch Autokraten?

Brüssel Im April empfing Indiens Ministerpräsident Narendra Modi kurz nacheinander zwei wichtige Besucher aus Europa. Erst reiste der britische Premier Boris Johnson an und warb um eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dann kam auch noch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Delhi und verkündete eine „strategische Partnerschaft“.

Die Avancen des Westens gegenüber demokratischen Schwellenländern wie Indien werden mit dem neuen Modewort „Friendshoring“ bezeichnet. Die westlichen Regierungen suchen weltweit Verbündete, um ihre Abhängigkeit von den beiden Autokratien China und Russland zu verringern.

Der Angriff auf die Ukraine und der Taiwan-Konflikt haben die Motivation für freundschaftliches Handeln zuletzt deutlich verstärkt. Doch diese Strategie hat auch Schattenseiten und kann zu hohen Kosten für Verbraucher und Unternehmen führen.

Ganz praktisch geht es darum, die eigenen Lieferketten auf befreundete Staaten zu verlagern und so den Zugang zu wichtigen Rohstoffen und anderen Produkten zu sichern. An die Stelle des Freihandels trete der „sichere Handel“, schreibt Günther Maihold in einer Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. In dieser neuen Welt würden Lieferanten auf Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit geprüft.

Aufgeschreckt wurden Europas Regierungschefs und Unternehmenslenker bereits in der Coronapandemie, als die Containerlieferungen aus China stockten. Nun droht eine Gasnotlage, weil Russland den Westen für die Unterstützung der Ukraine bestrafen will. Anlass zur Sorge gibt auch, dass China die globale Lithiumproduktion kontrolliert – und damit den wichtigsten Rohstoff für die Schlüsselbranche E-Mobilität. Daher häufen sich nun die Forderungen, dass die Lieferketten resilienter werden müssen.

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Geprägt wurde der Begriff „Friendshoring“ von US-Finanzministerin Janet Yellen. In einer Rede vor dem Atlantic Council erklärte sie im April: „Wir können es nicht zulassen, dass Länder aufgrund ihrer Marktposition bei entscheidenden Rohstoffen, Technologien oder Produkten die Macht haben, unsere Wirtschaft zu stören.“ Sie schlug vor, die Lieferketten auf Länder zu konzentrieren, „auf die wir zählen können“. So könne man die Risiken für die amerikanische Wirtschaft senken.

Die EU verfolgt eine ähnliche Strategie. Die geopolitische Lage verändere die Perspektive auf die Handelspolitik, sagte EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis kürzlich der „Financial Times“. Die Kommission strebe deshalb mehr Handelsabkommen mit „gleichgesinnten“ Partnern an.

Bis Jahresende soll das Abkommen mit Chile neu verhandelt werden, in der ersten Hälfte 2023 ein Deal mit Australien folgen. Beide Länder haben große Rohstoffvorkommen und sind stabile Demokratien. Es gehe darum, die Widerstandsfähigkeit der europäischen Lieferketten zu stärken, erklärte Dombrovskis.

In die gleiche Richtung geht die Minerals Security Partnership, an der neben den USA und Kanada fünf europäische Länder sowie Japan, Südkorea und Australien beteiligt sind. Ziel ist es, durchgängige Lieferketten für Kobalt, Lithium und Nickel zu schaffen – vom Abbau bis zum Recycling. Mit dem Chinarivalen Indien plant die EU inzwischen sogar einen gemeinsamen „Rat für Technologie und Handel“. Ein solches Gremium gibt es sonst nur zwischen der EU und den USA.

Anna Cavazzini, Vorsitzende des Binnenmarktausschusses im Europaparlament, begrüßt die EU-Initiativen als „kleine, wichtige Schritte, um Lieferketten sicherer zu machen.“ Die Grünen-Politikerin warnt allerdings davor, nun komplett auf „Friendshoring“ zu setzen. Die Lösung könne nicht sein, hektisch lauter neue Handelsabkommen mit Freunden abzuschließen und dabei die EU-Standards zu Nachhaltigkeit und Menschenrechten zu ignorieren, sagt sie. „Man muss trotzdem auf die Regeln achten.“

Kritiker halten das „Friendshoring“ für einen Irrweg. Ökonomen warnen vor einem neuen Kalten Krieg, der den Freihandel untergrabe und die Kosten für Unternehmen und Verbraucher in die Höhe treibe. „Ich verstehe das nationale Interesse an bestimmten kritischen Rohstoffen und dass man da nicht abhängig sein will“, sagt Johannes Fritz von der Schweizer Denkfabrik Global Trade Alert. „Eine Diversifizierung generell ist notwendig. Die Frage ist, ob man dabei in das Freund-Feind-Denken verfallen sollte.“

Wenn der Westen nun Handelsbeziehungen abbreche, weil andere Länder die eigenen Werte nicht teilten, reduziere man den Kreis potenzieller Lieferanten, sagt Fritz. „Resilienz erreichen Sie aber, wenn Sie möglichst viele Quellen haben.“

Wer gilt als Freund?

Auch die Ökonomin Helena Schweiger von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sieht die Debatte skeptisch: „Aus ökonomischer Sicht ist Friendshoring nicht sinnvoll, weil es das Wirtschaftswachstum aller Beteiligten senkt.“ Den Welthandel so offen wie möglich zu halten sei besser als neue Einschränkungen.

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Der ehemalige Notenbanker und Ökonom Raghuram G. Rajan warnte in einem Beitrag für „Project Syndicate“, dass Friendshoring darauf hinauslaufe, nur noch mit Ländern auf ähnlichem Entwicklungsniveau zu handeln. Der Vorteil globaler Lieferketten bestehe jedoch gerade in den unterschiedlichen Einkommensniveaus, sodass jedes Land seinen komparativen Vorteil ausspielen könne.

BDI und DIHK fordern neue Handelsabkommen

Das Problem des Friendshorings fängt schon bei der Definition an: Wer gilt als Freund? Nur lupenreine Demokraten? Oder sind manche Autokraten doch akzeptabel? In der Realität stößt das Konzept schnell an seine Grenzen: So bestellen die Europäer nun Flüssiggas in Katar, um das russische Gas zu ersetzen. Sie haben also nur eine Autokratie durch eine andere ausgetauscht. Und das umworbene Indien mag zwar die größte Demokratie der Welt sein. Aber Regierungschef Modi vermeidet eine klare Abgrenzung vom russischen Kriegstreiber Wladimir Putin.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) plädiert dafür, die Definition der „Freunde“ etwas breiter zu fassen. „Handelspartner müssen nicht zwingendermaßen liberale Demokratien sein“, sagt Wolfgang Niedermark aus der BDI-Hauptgeschäftsführung. „Man sollte unterscheiden zwischen zuverlässigen Geschäfts- und Investitionspartnern und unsicheren Ländern.“ In den Autokratien sei das Ausfallrisiko größer. Deutsche Unternehmen seien zunehmend bereit, eine Prämie zu zahlen, um solche Schwierigkeiten auszugleichen.

China scheint vielen Unternehmen weiterhin als zuverlässiger Partner zu gelten, jedenfalls stellen Ökonomen noch keine größeren Abwanderungsbewegungen fest. In den Handelsdaten sei keine Abkehr von China zu erkennen, sagt Schweiger. „Die Regierungen reden über Friendshoring, aber wir müssen immer bedenken, dass der Handel auf Unternehmensebene stattfindet. Und da scheint noch nicht viel zu passieren.“

Ein wichtiges Argument für das unveränderte China-Engagement vieler Firmen lieferte kürzlich der Chef des Chemieriesen BASF, Martin Brudermüller: China sei der am stärksten wachsende Chemiemarkt und werde 2030 die Hälfte des Weltmarkts ausmachen, erklärte er. „Es ist schwierig, zu sagen, man nehme daran nicht teil.“ Neben dem riesigen Absatzmarkt bietet China obendrein häufig auch noch die günstigsten Produktionsbedingungen.

Um die Regeln der ökonomischen Schwerkraft auszuhebeln, müsste sich die EU schon etwas einfallen lassen. Die Wirtschaftsverbände dringen auf neue Freihandelsabkommen. „Wenn wir stärker auf Alternativen zu China setzen, muss die EU die Marktöffnung mit anderen Regionen ernster nehmen und dringend neue Handelsabkommen abschließen“, sagt Niedermark. „Wir müssen die Handelsbarrieren insbesondere zu unseren Verbündeten abbauen.“

Handelsblatt-Serie „Die neue Weltwirtschafts(un)ordnung“

Darum geht es

Die Globalisierung hat sich auf einen ungeordneten Rückzug begeben. Die alte Weltwirtschaftsordnung wird durch eine neue Weltwirtschaftsunordnung abgelöst, Politik und Unternehmenslenker sind gefordert, den globalen Kapitalismus neu zu erfinden.

Teil 1: Die Zeitenwende

Die Globalisierung befindet sich auf einem ungeordneten Rückzug. Die neuen Spielregeln werden für Deutschland als Exportnation demnach gravierende Folgen haben. Hier gelangen Sie zum Artikel.

Teil 2: Der Kampf um Rohstoffe

Der Kampf ums Gas ist nicht das einzige Problem Europas. Für die Energiewende muss sich die EU auch wichtige Mineralien sichern. Ohne Rohstoffe platzt der Traum von Freiheitsenergien. Hier gelangen Sie zum Artikel.

Teil 3: Gefahr für den Klimaclub

Die Chinesen machen das Scholz-Vorhaben Klimaclub erst einmal zunichte. Auch die USA bremsen. Globale Fortschritte beim Klimaschutz und eine Führungsrolle Deutschlands rücken damit in weite Ferne. Hier gelangen Sie zum Artikel.

Teil 4: Handel mit Freund und Feind

Der Westen sucht die Unabhängigkeit von China und Russland. Deshalb sollen Lieferketten nun in befreundete Länder verlagert werden. Doch der Kurswechsel im Außenhandel ist umstritten. Hier gelangen Sie zum Artikel.

Teil 5: Völkerrechtler über Deutschland und China: „Von der Selbstverzwergung verabschieden“

Staaten wie Russland oder China streben nach Ansicht Herdegens eine neue internationale Ordnung an. Beim Ukraine-Krieg hält er ein baldiges Ende für möglich. Hier gelangen Sie zum Artikel.

Ilja Nothnagel vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) fordert ebenfalls einen neuen Anlauf bei den stockenden Freihandelsgesprächen. „Eine rasche Ratifizierung des EU-Kanada-Abkommens (Ceta) wäre ein wichtiges Signal für offene Märkte und regelbasierten Handel mit wichtigen Partnern“, sagt er. „Ebenso sollte sich die Bundesregierung für den raschen Abschluss der EU-Abkommen mit Mercosur, Indonesien und Indien einsetzen. Auch ein stärkerer Fokus der EU auf eine enge institutionelle Anbindung der Nachbarschaft an den Binnenmarkt ist nötig.“

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