Die lateinamerikanische Wirtschaft ist vom globalen Hoffnungsträger zum Risikofaktor geworden. Das schwache Wachstum fördert politische Instabilität.
Salvador Zu Jahresbeginn sah die Welt noch rosig aus in Lateinamerika. Alles sprach für einen beginnenden Wachstumsboom: In Brasilien setzte die Wirtschaft auf das liberale Wirtschaftsprogramm des neuen Präsidenten Jair Bolsonaro. In Argentinien schienen die Reformen des Präsidenten Mauricio Macri endlich Wachstum zu gerieren.
In Mexiko waren die Investoren positiv überrascht vom wirtschaftsfreundlichen Kurs des Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador. „Wir hofften, dass Lateinamerika 2019 endlich einen neuen Wachstumszyklus beginnen würde“, sagte damals Ben Ramsey Lateinamerikaexperte von JP Morgan. Einige Analysten prognostizierten gar einen Börsenboom zwischen Tijuana und Patagonien.
Doch es kam anders. Lateinamerika ist nicht Hoffnungsort für die globalen Finanzmärkte, es ist inzwischen zum Risikofaktor für die Weltwirtschaft geworden – ökonomisch wie politisch.
In Argentinien hat die Bevölkerung jetzt den wirtschaftsliberalen Reformer Mauricio Macri aus dem Präsidentenamt gejagt und ihn durch den Linksperonisten Alberto Fernández ersetzt. Die Gefahr einer erneuten Staatspleite wie 2001 ist damit zunehmend real.
In Ecuador hat die Erhöhung der Benzinpreise vor zwei Wochen die Wut der Menschen entfacht. Die Regierung von Lenín Moreno war zeitweise gezwungen, ihren Sitz aus der Hauptstadt an die Küste zu verlegen.
In Bolivien rumort es, da die Opposition den zum vierten Mal angetretenen Präsidenten Evo Morales des Wahlbetrugs bezichtigt. In Brasilien strapaziert Präsident Jair Bolsonaro mit seiner unberechenbaren Politik die Nerven der internationalen Anleger.
Ganz zu schweigen von der Tragödie in Venezuela: Die Wirtschaft ist komplett zusammengebrochen. Diktator Nicolás Maduro hat das Land mit der Hilfe von Chinas, Russlands und Kubas Geheindienst fest im Griff. Die Zahl der Flüchtlinge dürfte Ende des Jahres auf über fünf Millionen angeschwollen sein. Das ist ein Sechstel der Bevölkerung, das vor Hunger, Krankheiten und Repression aus dem ölreichsten Land der Erde geflohen ist.
Überall rumort es auf dem Kontinent. Selbst das einstige Musterland Chile, das Staatspräsident Sebastián Piñera noch vor zwei Wochen als „Oase der Stabilität“ bezeichnete, ist zum Stabilitätsrisiko geworden. Eine minimale Erhöhung der Metro-Fahrkartenpreise für umgerechnet vier Cent hat zu den gewalttätigsten Demonstrationen seit Ende der Pinochet-Diktatur vor 30 Jahren geführt.
18 Menschen sind ums Leben gekommen. U-Bahn-Stationen wurden verwüstet, Hunderte von Supermärkten geplündert. Die Regierung verhängte eine Ausgangssperre und schickte das Militär auf die Straße.
Die wachsenden sozialen Aufstände sind Folge der Wirtschaftsmisere und der schrumpfenden Einkommen. Zweimal schon hat der Internationale Währungsfonds (IWF) die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert. Gerade einmal 0,2 Prozent Wachstum erwartet der Fonds in diesem Jahr als Wachstumsrate für ganz Lateinamerika, weit hinter dem globalen Durchschnitt von drei Prozent – doch das war vor den Massendemos in Chile, Bolivien und Ecuador.
Unter den Regionen weltweit bildet der Kontinent das Schlusslicht. Der IWF rechnet damit, dass Lateinamerika auch die nächsten fünf Jahre unter dem Durchschnitt der Emerging Markets, also der aufstrebenden Volkswirtschaften weltweit wachsen wird. Angesichts der trüben Aussichten spottet der US-argentinische Kommentator Andrés Oppenheimer: „Wir sind zu globalen Stagnations-Champions geworden.“
Das größte Risiko ist die drohende Staatspleite in Argentinien. Dieses Mal könnte der mögliche Zahlungsausfall sogar den IWF, dem Argentinien 56 Milliarden Dollar schuldet, ins Wanken bringen. Einen so großen Kredit hat der Fonds noch nie einem Land vergeben.
Die Nummer drei unter den lateinamerikanischen Volkswirtschaften ist seit 2011 nicht mehr gewachsen. Das Einzige, was wächst, ist die Verschuldung und die Armut. 40 Prozent der Argentinier sind froh, wenn sie eine Wohnung haben und sich ernähren können – aber ihnen bleibt nichts mehr übrig für private Bildung, Kranken- oder gar Rentenversicherung.
Wenn Macris Nachfolger Fernández nicht bald Ergebnisse liefert, dann dürften Demonstranten im Schulterschluss mit Gewerkschaften die Metropole Buenos Aires lahmlegen. Es droht eine verhängnisvolle Spirale: Das schwächere Wirtschaftswachstum verstärkt politische und soziale Unsicherheit. Das wiederum schlägt auf das Wachstum.
Die Gründe für die enttäuschende Wirtschaftsentwicklung in Lateinamerika sieht der IWF nicht nur in der zunehmenden politischen Unsicherheit in der Region, sondern auch in der Entwicklung in der Weltwirtschaft. So ist vor allem Südamerika ein Opfer der China-USA-Streitigkeiten und deren Auswirkungen auf den Welthandel.
Die Region ist ein Rohstofflieferant – und damit von der Konjunktur in China und den USA stärker abhängig als Staaten, die stärker in die globalen Wertschöpfungsketten der Industrie integriert sind.
Auch das sah Anfang des Jahres noch ganz anders aus: Als China Ende vergangenen Jahres die Soja- und Maisimporte aus den USA mit 25 Prozent Zoll belegte, da sprangen Südamerikas Staaten in die Lücke. Zeitweise verdoppelten sich die Ausfuhren südamerikanischen Sojas nach China.
Doch die Freude währte nur kurz: Inzwischen haben die Sojapreise insgesamt deutlich nachgegeben, vor allem wegen der geringeren Nachfrage aus China. Schlimmer noch: Die südamerikanischen Agrarökonomien wie Brasilien und Argentinien, aber auch Uruguay, Paraguay und Bolivien drohen zum Opfer des US-China-Streits zu werden.
China hat den USA jetzt angeboten, wieder mehr Agrargüter aus den USA kaufen, um höhere Einfuhrzölle für seine Produkte in den USA zu vermeiden. US-Präsident Donald Trump bleibt wohl nichts anderes übrig, als zuzustimmen, mit Rücksicht auf seine Wähler im agrarischen Mittleren Westen.
Auch die Preise für Kupfer, Erze und andere industrielle Rohstoffe sind gefallen, weil sich die Weltkonjunktur abschwächt. Das ist fatal für Länder wie Peru, Chile oder Kolumbien, deren Rohstoffanteil bei den Exporten über 80 Prozent liegt.
Der IWF warnte schon zur Jahresmitte, dass zunehmend politische Risiken die Konjunktur eintrüben könnten. „Zu den wichtigsten innenpolitischen Risiken gehören ein weiterer Anstieg der politischen Unsicherheit sowie die Gefahr, dass Reformen wieder zurückgedreht werden“, beobachtet Alejandro Werner, Direktor für die westliche Hemisphäre beim IWF. „Die Risiken für eine noch stärkere Abschwächung sind dann gegeben.“
So glauben Experten, dass Wahlsieger Fernández die wirtschaftsliberalen Reformen seines Vorgängers zurückgedreht und womöglich eine Devisenzwangswirtschaft einführen wird, um die Dollar-Reserven zu schonen. Auch Schutzzölle auf Importe und Steuern auf Agrarexporte dürfte er einführen, um die Leistungsbilanz zu schonen und fehlende Steuereinnahmen zu ersetzen.
Die Investoren fürchten, dass mit der politischen Kehrtwende Argentiniens auch wieder die dirigistische, investorenfeindliche Abschottungspolitik der Regierungen vor Macri wiederkehren könnten.
Allerdings ist es nicht verwunderlich, dass die Wähler den liberal-konservativen Präsidenten Macri so deutlich abstraften. Auch unter ihm ist Argentinien nicht gewachsen. Die Inflation beträgt 55 Prozent im Jahr. Der Peso ist eine der schwächsten Währungen weltweit in diesem Jahr.
2,4 Prozent wird Argentinien dieses Jahr schrumpfen. Auch nächstes Jahr rechnet der Lateinamerikaexperte Diego Pereira von JP Morgan mit einem Schrumpfen von 1,6 Prozent. „Die Wettervorhersage bleibt unverändert“, analysiert er die Aussichten: „Der Himmel bleibt dunkel und die Aussichten düster.“ Sogar die nächste Staatspleite ist nicht ausgeschlossen.
Auch in Brasilien, der mit Abstand größten Ökonomie Lateinamerikas, hellt sich die Konjunktur nur ganz langsam auf – das belastet den ganzen Kontinent. Brasiliens Ökonomie stagniert nach nun drei Rezessions- und zwei Stagnationsjahren weiterhin. Ein Wachstum von einem Prozent erwarten die meisten Investmentbanken in diesem Jahr.
Für das nächste Jahr rechnen sie mit einer leichten Aufhellung: Auch dann wird Brasilien kaum mehr wachsen als zwei Prozent. Viel zu wenig ist das für ein Schwellenland.
Zwar ist es der Regierung nun gelungen, die Rentenreform durch den Kongress zu bekommen – nach zehn Monaten, statt drei wie erwartet. „Diese Reformen sind absolut notwendig, aber dadurch bleibt keine Energie mehr für andere Initiativen der Regierung“, sagt Sergio Vale, Chefökonom von MB Associados.
Seit Jahresanfang, also seit dem Antritt der Regierung von Bolsonaro, hat das Vertrauen der Brasilianer in die wirtschaftliche Erholung deutlich abgenommen. Die Unternehmer halten sich mit den Investitionen zurück.
Die Ausschreibungen für Infrastrukturprojekte (Flughäfen, Straßen, Schienen, Kraftwerke) laufen zu langsam an, als dass sie bald ein Investitionsschub auslösen könnten. „Die Gefahr besteht, dass die bisherigen Reformanstrengungen umsonst waren“, warnt Christopher Garman, Direktor beim Beratungsunternehmen Eurasia aus New York vor einem Reformrückschritt auch in Brasilien.
Auch in Mexiko, der zweitgrößten Ökonomie Lateinamerikas sind die Aussichten schlecht – wegen der dirigistischen Politik des linkspopulistischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. Den Neubau des Hauptstadtflughafens in Mexiko-Stadt hat er gestoppt, obwohl schon die Hälfte des Budgets von 13 Milliarden Dollar ausgegeben war.
Er will in seinem Heimatstaat Tabasco eine neue Raffinerie für knapp acht Milliarden Dollar bauen – obwohl Energieexperten einhellig der Meinung sind, dass Mexiko sie gar nicht brauche. Bei der Energiereform soll die staatliche Ölgesellschaft wieder im Mittelpunkt stehen – und private Konzerne zurückgedrängt werden.
Die Ratingagenturen haben das Kreditrisiko Mexikos heraufgestuft, weil nicht sicher ist, ob die Regierung das Haushaltsziel tatsächlich einhalten will. Zudem steht Mexiko ständig im Mittelpunkt der Kritik von Trumps Immigrationspolitik.
Das verunsichert Investoren, die nun nicht mehr wissen, ob das gerade ausgehandelte USMCA-Abkommen als Nachfolger für das Nafta-Abkommen gelten wird. Die Verabschiedung im US-Kongress jedenfalls lässt auf sich warten. Nur noch 0,5 Prozent könnte die Wirtschaft Mexikos dieses Jahr wachsen. Maximal 1,3 Prozent dürften es nächstes Jahr werden.
Das stagnierende Wachstum führt dazu, dass die Regierungen des Kontinents immer weniger die strukturellen Mängel verdecken können. Das ist vor allem die wachsende Ungleichheit: Die Einkommenskonzentration hat in allen Staaten mit dem Abschwung wieder zugenommen – ein Prozent der Chilenen verfügt über 30 Prozent der Einkommen, in Brasilien ist das kaum weniger. Nach dem Ranking des World Inequality Database (WID) sind weltweit nur in Katar die Reichen noch reicher.
Die Regierungen konnten es sich in den Boomjahren der 2000er-Jahre bei den hohen Rohstoffeinnahmen leisten, die Interessen der Armen nicht zu berücksichtigen. Es fiel immer noch genug auch für sie ab. Das ist nun nicht mehr der Fall. Auch für das einstige Musterland Chile nicht.
Staatspräsident Piñera scheint bis heute nicht verstanden zu haben, dass die Hälfte der Chilenen nur rund 500 Dollar im Monat verdient und 80 Prozent der Rentner weniger als den Mindestlohn von 440 Dollar bekommen. Nun hat er sein Kabinett entlassen. Er will mit einem Ministerwechsel einen Neuanfang schaffen.
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