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17.01.2022

13:23

WHO-Chefwissenschaftlerin hält Impfrate von 70 Prozente für notwendig Reuters

WHO-Chefwissenschaftlerin Soumya Swaminathan

Die Wissenschaftlerin ist seit 2019 in ihrer Position. Sie erwartet noch viele Mutationen, aber vielleicht weniger besorgniserregende Varianten des Coronavirus in der Zukunft.

Soumya Swaminathan im Interview

WHO-Chefwissenschafterlin zu Omikron-Variante: „Es wird eine Kreuzimmunisierung geben – das ist ermutigend“

Von: Nicole Bastian, Jan Dirk Herbermann

Mit der Omikron-Welle steigt die Immunisierung gegen Corona. Auch die WHO sieht die Chance, dass das der Anfang vom Ende der Pandemie ist. Doch der Zeitpunkt ist unsicher.

Genf, Düsseldorf on

WHO-Chefwissenschaftlerin hält Impfrate von 70 Prozente für notwendig Reuters

WHO-Chefwissenschaftlerin Soumya Swaminathan

Die Wissenschaftlerin ist seit 2019 in ihrer Position. Sie erwartet noch viele Mutationen, aber vielleicht weniger besorgniserregende Varianten des Coronavirus in der Zukunft.

Die leitende Wissenschaftlerin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Soumya Swaminathan, begrüßt es, wenn Regierungen bereits jetzt den Übergang der Coronapandemie in eine endemische Phase vorbereiten. „Wir erwarten, dass eine immense Zahl an Menschen auf der Welt mit Omikron infiziert sein wird, und es wird eine Kreuzimmunisierung zu anderen Varianten geben“, sagte Swaminathan dem Handelsblatt. „Das ist ermutigend.“

Der Übergang in eine endemische Phase werde große Auswirkungen haben auf den Umgang mit den Infektionszahlen, für das Testen, für die Krankenhauskapazitäten. „Diese Diskussionen brauchen wir jetzt.“ 2022 werde es viele Millionen Menschen auf der Welt mit einem besseren Immunisierungsschutz geben – „wegen der Impfungen und leider wegen der Infektionen“.

Ob die Reklassifizierung aber nach der Omikron-Welle geschehen könne, sei noch nicht klar. „Wir wissen nicht, wann und wo die nächste Variante auftauchen wird und wie sie mit Omikron und Delta interagiert“, sagte die Wissenschaftlerin.

Zudem könne bei einer Pandemie kein Land in eine endemische Phase übergehen, wenn der Rest der Welt noch mitten in der Pandemie sei. Die Wissenschaftlerin hält eine weltweite Impfrate von 70 Prozent bis Mitte des Jahres für notwendig. Dann erst könne der Übergang in eine endemische Phase möglich sein. Eine Impfpflicht sollte laut Swaminathan die letzte Option sein.

Als ermutigend bezeichnete Swaminathan die Entwicklung oraler Covid-Medikamente und der Corona-Totimpfstoffe. Sie erwartet, dass künftig mehrere Vakzine bei Coronaimpfplänen kombiniert werden.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Frau Swaminathan, muss sich die Welt auf eine endlose Folge von Coronamutationen einstellen?
Es gibt mehrere mögliche Szenarien, wie sich das Virus verhalten wird. In den vergangenen zwei Jahren haben wir viele Mutationen, also Veränderungen der genetischen Sequenz von Sars-Cov2 gesehen – und dabei waren es weniger als ursprünglich erwartet. Entscheidend aber sind die Varianten. Wir haben gerade die fünfte besorgniserregende Variante des Covid-19-Erregers. Wir erwarten, dass wir viele weitere Mutationen haben werden, aber es kann sein, dass es weniger besorgniserregende Varianten geben wird. Das ist unmöglich genau vorherzusagen.

Wovon hängt es ab, ob eine Variante besorgniserregend ist?
Die Einstufung macht sich an drei Kriterien fest: der Übertragbarkeit, der Schwere der Krankheit und wie leicht eine Immunität durchbrochen wird. Hat das Virus die Möglichkeit, sich in allen Teilen der Welt gut zu verbreiten, sind die Chancen höher, dass sich das Virus weiterentwickelt. Wir müssen bedenken, dass das Virus auch viele Tierarten infizieren kann – Wild, Hunde, Katzen, Hamster, Nerze, Frettchen, wir kennen gar nicht alle. Und dass es zwischen Tieren und Menschen hin- und herspringen kann. Das Virus wird uns noch lange begleiten. Entscheidend wird das Niveau an Immunität sein, dass die Menschheit über Impfung und Infektion aufbaut.

Anfang vom Ende der Pandemie?

Rund 60 Prozent der Weltbevölkerung haben bisher mindestens eine Impfung. Omikron, das sich gerade massiv verbreitet, hinterlässt einen Genesenenschutz. Ist das der Anfang vom Ende der Pandemie?
Es ist im Moment unmöglich zu sagen, ob Omikron der Anfang vom Ende ist. Ja, es gibt Leute, die das glauben, denn wir erwarten, dass eine immense Zahl an Menschen auf der Welt mit Omikron infiziert sein wird, und es wird eine Kreuzimmunisierung zu anderen Varianten geben. Frühe Daten legen nahe, dass eine Omikron-Infektion einen Kreuzschutz vor Delta bietet. Das ist ermutigend.

Wird das Coronavirus also endemisch?
Wenn wir genügend Immunitätsschutz in der Bevölkerung haben, wird das Virus endemisch, weil es nicht für die Todesraten sorgt, wie es dies derzeit tut. Es wird weiter Menschen anstecken, manche werden auch sterben, aber nicht mit den Raten, die wir jetzt sehen. Aber dazu brauchen wir genügend Menschen mit Immunität, damit sie die Infektion als milde Infektion verkraften. Dann bekommen wir eine Lage ähnlich der der Grippe, an der jährlich 250.000 bis 650.000 Menschen sterben. Sars-Cov2 könnte sich in diese Richtung entwickeln, einfach ein weiteres Virus der Atemwege. Es ist eine Möglichkeit, dass dies passieren wird, nachdem der Omikron-Anstieg um die Welt gegangen ist. Aber 100-prozentig sicher sein können wir uns da nicht.

Die Wissenschaftlerin fordert eine Impfrate von 70 Prozent bis zur Mitte des Jahres. dpa

Impfstoff

Die Wissenschaftlerin fordert eine Impfrate von 70 Prozent bis zur Mitte des Jahres.

Warum nicht?
Wir wissen nicht, wann und wo die nächste Variante auftauchen wird und wie sie mit Omikron und Delta interagiert. Aber wir werden 2022 viele Millionen Menschen auf der Welt mit einem besseren Immunisierungsschutz sehen – wegen der Impfungen und leider wegen der Infektionen.

Übergang in die endemische Lage

Spanien bereitet vor, die offizielle Einschätzung von Corona wie die einer Grippe einzustufen nach der Omikron-Welle? Ist dieser Schritt derzeit in Ihren Augen richtig oder verfrüht?
Letzten Endes werden wir uns in diese Richtung bewegen. Auch wenn wir noch nicht genau wissen, wann das passieren wird. Und der Übergang von der Pandemie zum endemischen Verlauf wird nicht über Nacht passieren, es ist ein gradueller Prozess. Er wird große Auswirkungen haben auf den Umgang mit den Infektionszahlen, für das Testen, für die Krankenhauskapazitäten. Diese Diskussionen brauchen wir jetzt. Es ist gut, wenn Regierungen den Übergang in die endemische Phase jetzt vorbereiten.

Der Übergang in diesem Jahr scheint doch dann recht wahrscheinlich ...
Bei einer Pandemie kann kein Land in eine endemische Phase übergehen, wenn der Rest der Welt noch mitten in der Pandemie ist. Jetzt müssen wir uns darauf konzentrieren, wie wir die ganze Welt auf das Niveau einer kompletten Impfrate von 70 Prozent bis Mitte dieses Jahres bringen, auf ein Niveau, bei dem wir entspannt und selbstbewusst sein können. Dann erst können wir wirklich den Übergang in eine endemische Phase vorbereiten. Die nächste Variante kann von überall kommen und schnell um die Welt reisen.

In wenigen Wochen wird rund die Hälfte der Menschen in der WHO-Region Europa mit insgesamt 53 Ländern, zu denen auch zentralasiatische Staaten gehören, WHO-Prognosen zufolge eine Omikron-Infektion haben. Das sagt zumindest die WHO. Zusammen mit den hohen Impfraten in Europa könnte das zu einer Immunisierung in der WHO-Region Europa führen. Würde die WHO Covid-19 in Europa dann als eine endemische Krankheit klassifizieren?
Nein. Wir werden nicht sagen, Covid-19 ist endemisch in Europa, und in anderen Teilen der Welt verzeichnen wir noch eine Pandemie. Zudem sehen wir keine homogene Situation in der WHO-Region Europa, viele Länder vor allem im Osten haben noch niedrige Impfraten. Diese Länder haben hohe Todesraten, verursacht durch die Delta-Variante des Erregers. Einige Leute sagen, wir sollten Omikron einfach laufen lassen. Dann würden die Menschen gegen neue Infektionen immunisiert. Die WHO stimmt dieser Auffassung nicht zu. Denn die Omikron-Variante
kann Menschen töten, sie kann zu schweren Krankheitsverläufen führen. Wir müssen alles daransetzen, alle Menschen vor Infektionen zu schützen.

Umgang mit mangelnder Impfbereitschaft

Die Impfbereitschaft ist in vielen Ländern noch begrenzt, weil viele Menschen eine Impfung komplett ablehnen. Wie sollen Regierungen mit diesem Widerstand umgehen?
Das ist eine riesige Herausforderung. Die Impfung ist der sehr viel sicherere Weg zur Immunisierung. Bei der Immunisierung über eine Infektion geben wir dem Virus mehr Gelegenheit, sich zu vermehren, zu entwickeln, zu mutieren. Und ein kleiner Anteil der Menschen, die infiziert werden, werden ernsthaft krank werden und sterben vielleicht. Ungeimpfte haben das weitaus größere Risiko, im Krankenhaus zu landen und zu sterben. Das zeigen die Daten in jedem Land. Das Risiko zu sterben ist bis zu zehnfach höher in der Gruppe der Ungeimpften.

In Österreich demonstrieren Menschen gegen die Coronamaßnahmen – und die geplante Impfpflicht. imago images/Michael Kristen

Demonstration gegen Impfpflicht

In Österreich demonstrieren Menschen gegen die Coronamaßnahmen – und die geplante Impfpflicht.

Was also können Länder tun?
Ich glaube, wir brauchen in jedem Land, das das Problem mit einem hohen Widerstand gegen Impfungen hat, multidisziplinäre Anstrengungen über die gesamte Gesellschaft, um die Menschen zu verstehen, ihre Einflussquellen nachzuvollziehen und sie zu überzeugen. Wahrscheinlich lässt sich eine kleine Gruppe von Menschen nicht überzeugen, aber ich bin sicher dass eine signifikante Zahl überzeugt werden kann, ihre Meinung zu ändern. Wir haben dies etwa bei Polio auch in vielen Ländern gehabt.

In einigen Ländern in Europa hat die Politik die Geduld verloren. Griechenland hat eine Impfpflicht für Menschen ab 60 beschlossen, Österreich will im Februar mit einer allgemeinen Impfpflicht starten, auch in Deutschland werden die Gesetzesvorschläge vorbereitet. Was halten Sie von einer Impfpflicht zu diesem Zeitpunkt?
Eine Impfpflicht sollte die letzte Option sein. Grundvoraussetzung ist zunächst, den Zugang zur Impfung sicherzustellen, der ist in den Ländern, die Sie erwähnt haben, gegeben. Aber die Regierung muss sicherstellen, dass es keine marginalisierten Gruppen gibt, für die der Zugang zunächst vereinfacht werden sollte. Dann gilt es, die Vorteile mit den Risiken und Schäden einer Impfpflicht abzuwägen, der öffentlichen Gesundheit gegen individuelle Freiheitsrechte. Das Wichtigste vor einem solchen Schritt ist eine Diskussion in einem Ausschuss mit Menschen unterschiedlicher Disziplinen – eingeschlossen Ethikern. Die Impfpflicht wirft viele ethische Fragen auf. Man muss sich ihr mit großem Bedacht nähern. Man kann die Notwendigkeit dafür sehen – vor allem, wenn sie auf bestimmte Bevölkerungsgruppen begrenzt ist, deren Schutz vorrangig gilt gegenüber den individuellen Freiheitsrechten. Aber der Staat muss transparent, selektiv und zeitbegrenzt vorgehen.

Manche Staaten offerieren finanzielle Anreize für die Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Ist das eine Lösung?
Anreize sind eine gute Idee, ob finanziell oder anderer Art. Manche Länder haben mit Gutscheinen für Restaurants oder Kinos Anreize gesetzt. Anreize sollten einer Impfpflicht vorausgehen.

Arzneimittel gegen Covid-19

Die WHO hat das Ziel ausgegeben, dass bis Mitte dieses Jahres 70 Prozent der Bevölkerung in allen Ländern vollständig gegen Covid-19 geimpft sein sollen. Doch Dutzende arme Länder haben noch nicht einmal zehn Prozent ihrer Bevölkerung vollständig geimpft. Wie wollen Sie das ehrgeizige 70-Prozent-Ziel erreichen?
Wir setzen vor allem auf das internationale Impfprogramm Covax. Covax wird sich in diesem Jahr auf die Lieferungen von Impfstoffen konzentrieren, besonders in Afrika.

Wo liegen die Hauptursachen für die niedrigen Impfraten in den armen Ländern?
Die Menschen dort kämpfen mit logistischen Problemen, etwa einem schlecht ausgebauten Verkehrssystem, Unterbrechungen bei den Lieferketten und fehlenden Kühlmöglichkeiten für Impfstoffe. Hinzu kommen generell schwach ausgestattete Gesundheitssysteme mit zu wenig Personal. In vielen dieser Länder toben auch noch bewaffnete Konflikte. Es wird also schwierig, erfolgreiche Impfkampagnen durchzuziehen.

In den vergangenen Wochen haben Arzneimittelbehörden einige Medikamente gegen Covid-19 zugelassen. Können diese Arzneien ein „Gamechanger“ in der Pandemie sein?
Die Entwicklung ist sehr ermutigend, weil unter den Mitteln orale Arzneien sind. Bislang war die Medizin intravenös zu verabreichen, sehr teuer und kaum zugänglich. Es ist aber noch zu früh, um zu sagen, dass die neue Medizin gegen Covid-19 ein Gamechanger sein wird. Denn man muss Covid-19 dafür sehr früh diagnostizieren, also sehr viel testen. Wenn man die Infizierten findet und behandelt, kann verhindert werden, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden. Allerdings verfügen viele Länder nicht über die nötigen Diagnosemöglichkeiten.

Werfen wir noch einen Blick auf die kommenden Impfstoffe gegen Covid-19. Werden mRNA-Vakzine wie das von Biontech oder sogenannte inaktivierte Impfstoffe wie der des Herstellers Novavax dominieren?
Das entwickelt sich noch. Wir werden eine Reihe von Impfstoffplattformen haben, die effektiv wirken. Wenn es um die Anpassung an neue Varianten geht, haben die mRNA-Wirkstoffe große Vorteile. Ich glaube, dass wir Kombinationen von Impfstoffen sehen werden. Eine Grundimpfung mit einem Vakzin und dann den Booster mit einem anderen Vakzin.
Frau Swaminathan, vielen Dank für das Interview.

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