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31.08.2022

09:25

Sowjetunion

Der unvollendete Friedensbringer: Michail Gorbatschow ist tot

Von: Mathias Brüggmann

PremiumEr öffnete die Sowjetunion gen Westen und ebnete den Weg für die Wiedervereinigung. In seiner Heimat blieb „Gorbi“ unverstanden – aber die Welt hat viele Gründe zur Trauer. Ein Nachruf.

Der frühere sowjetische Staatspräsident ist gestorben. dpa

Michail Gorbatschow

Der frühere sowjetische Staatspräsident ist gestorben.

Berlin Michail Gorbatschows Tod ist ein Symbol: Er tritt ausgerechnet jetzt von der Weltbühne ab, da sich die Welt wieder einmal radikal ändert – ausgehend von seiner Heimat Russland und entgegen der Richtung, die er für sein Land sah.

Der Bauernsohn aus dem Nordkaukasus wurde zu einem Mann, der die Welt veränderte. Er setzte dem Irrsinn der Blockkonfrontation ein Ende, stoppte den Rüstungswettlauf, holte die Welt vom atomaren Abgrund zurück. Das brachte Europa Jahrzehnte von Frieden und Wohlstand – und ihm selbst den Friedensnobelpreis.

Aber Gorbatschows Wirken wird von vielen Russinnen und Russen bis heute als Fehler oder gar Schande gesehen. Der Untergang der UdSSR hat bei ihnen die Phantomschmerzen eines untergegangenen Weltreichs ausgelöst. Wladimir Putin sieht im Ergebnis von Gorbatschows Entscheidungen gar die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Das Ergebnis dieser Sichtweise ist der Ukrainekrieg.

Im Alter von 91 Jahren ist Michail Gorbatschow nun nach langer und schwerer Krankheit im Moskauer Zentralkrankenhaus gestorben.

Der Sohn eines russischen Vaters und einer ukrainischen Mutter hatte 1985 als Generalsekretär der KPdSU die Führung des größten Landes der Welt übernommen. Damals war die Sowjetunion ein Riese auf tönernen Füßen: militärisch stark, ökonomisch auf dem Weg in eine tiefe Depression.

Mit dem damals 54-Jährigen wehte erstmals ein frischer Wind durch das kriselnde Reich, das sich nach außen so stark zeigte. Auch ich hatte Michail Gorbatschow viel zu verdanken. Seine Politik der Öffnung (Glasnost) und des Umbaus (Perestrojka) haben mich schon früh in die Sowjetunion fahren lassen, 1983 erstmals nach Moskau, Kiew und Tiflis und dann immer wieder, Studienaufenthalte in Leningrad (St. Petersburg) und auf der Krim inklusive.

Denn Gorbatschow gab dem Erlernen der russischen Sprache Sinn.

Nachruf

Michail Gorbatschow ist tot

Nachruf: Michail Gorbatschow ist tot

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Tatsächlich drehten sich unter seiner Führung die Zeichen auf Ausgleich, Völkerverständigung, am Ende für Deutschland in Richtung Einheit. Die Dankbarkeit der Deutschen hat sich Gorbatschow damit für immer erworben. Und auch viele seiner Landsleute waren ihm dankbar, dass sie erstmals das frühere Völkergefängnis Sowjetunion verlassen durften.

In der UdSSR selbst begann eine Phase des Auftauens nach der kommunistischen Eiszeit: Stalins Verbrechen wurden aufgearbeitet, Verfolgte rehabilitiert, unterdrückte Bevölkerungsgruppen frei – darunter auch die deportierten Wolgadeutschen. Freier Handel und Unternehmertum wurden, wenn zunächst auch zögerlich, zugelassen, statt mit Lagerhaft geahndet.

Wie Gorbatschow seinem Land Freiheit brachte

Der Dissident Andrej Sacharow kam frei. Die „Samisdat“ genannten Untergrundzeitungen und -bücher durften legal erscheinen, die Presse blühte auf. Überall entstanden Diskussionsklubs, wo bis dahin der Kasernenhofton der Kommunisten herrschte oder Propaganda über angeblich blühende Landschaften, wo in Wirklichkeit die Regale leer waren. Gorbatschow ließ erste freie Wahlen zu. Die geschlagenen sowjetischen Truppen holte er nach neun Jahren Krieg aus Afghanistan heim. Gorbatschow gab Millionen Menschen die Luft zum Atmen. In nur sechs Jahren stellte er die Welt auf den Kopf.

Gorbatschow galt als einer der Väter der Deutschen Einheit und Wegbereiter für das Ende des Kalten Krieges. imago/photo2000

Von links: Michail Gorbatschow, George Bush und Helmut Kohl

Gorbatschow galt als einer der Väter der Deutschen Einheit und Wegbereiter für das Ende des Kalten Krieges.

Aber schon früh wurde diese Freiheit auch von Nationalisten missbraucht und die von Stalin eisern unterdrückten Konflikte wurden wiederbelebt: Es kam zu blutigen Kämpfen um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, innerhalb Georgiens und andernorts. Friedliche Rufe nach Selbstbestimmung der Völker – wie in den drei von Stalin einverleibten baltischen Republiken – wollte Gorbatschow mit Panzern in Vilnius stoppen. Es war einer seiner verhängnisvollen Fehler.

Von denen gab es im bewegten Leben Gorbatschows einige. Zwar handelte er mit US-Präsident Ronald Reagan weitreichende Abrüstungsverträge aus und beendete so den Kalten Krieg. Und der DDR-Staatsführung schrieb er den unvergessenen Satz ins Stammbuch: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Doch den Zerfallsprozess im eigenen Land bekam Gorbatschow, der von März 1990 bis Dezember 1991 neben seiner Rolle als KPdSU-Generalsekretär auch erster und letzter Präsident der Sowjetunion war, nicht in den Griff. Sein Versprechen von Glasnost wurde erstmals gebrochen, als am 16. April 1986 die Atomkatastrophe von Tschernobyl die Welt erschütterte und die Sowjetführung das verheerende Ausmaß zu verschleiern versuchte.

Auch die wirtschaftliche Lage wurde zusehends verheerend. Am Ende hatten etwa die Kohlekumpel im Kusbass-Revier nicht einmal mehr Seife, um sich nach der Schicht zu waschen. Die USA hatten Saudi-Arabien gedrängt, die Ölförderung voll hochzufahren und so den Ölpreis abstürzen zu lassen. Gorbatschows Staat war finanziell am Ende, ihm selbst fehlte der Mut zur wirtschaftlichen Öffnung, zu beherzten Schritten zur Marktwirtschaft.

Historischer Bruderkuss zwischen Erich Honecker, Staats- und Parteichef der DDR und Michail Gorbatschow, Präsident der Sowjetunion auf dem SED-Parteitag. imago images/Sommer

Erich Honecker (r.) und Michail Gorbatschow

Historischer Bruderkuss zwischen Erich Honecker, Staats- und Parteichef der DDR und Michail Gorbatschow, Präsident der Sowjetunion auf dem SED-Parteitag.

Dieses Versprechen nutzte Gorbatschows großer Gegenspieler, Boris Jelzin, der sich mit den Präsidenten der Ukraine und Weißrusslands verbündete und die Republiken für unabhängig von der UdSSR erklärte. Das war das Ende der Sowjetunion. Zuvor hatten kommunistische Hardliner aus dem Zentralkomitee der Partei noch im Sommer 1991 den auf der Krim urlaubenden Gorbatschow per Staatsstreich für abgesetzt erklärt.

Während Gorbatschow unter Hausarrest saß, stemmte sich Jelzin erfolgreich in Moskau den Panzern der Putschisten entgegen. Gorbatschow überlebte zwar politisch, doch Jelzin wurde noch populärer. Einsam saß Gorbatschow am 25. Dezember 1991 im Kreml und hielt seine letzte Fernsehansprache an sein Volk, das sich längst auf 15 Nachfolgestaaten verteilt hatte. Gorbatschow, der Zauderer, war daran gescheitert, dass er die Sowjetunion zwar reformieren, aber nicht zerstören wollte.

Wer Gorbatschow danach traf, erlebte mal einen gebrochenen Mann, mal einen hoffnungsvollen Altpolitiker, der noch einmal etwas versuchen wollte. Gebrochen war er, wenn er sich an seinen Erzrivalen Jelzin und dessen unerbittlichen Verdrängungskampf erinnerte. Verbittert war er, der mit Helmut Kohl in Strickjacken die deutsche Einheit im Kaukasus vereinbarte, über viele Politiker im Westen: Seine Hand zum Aufbau des von ihm geplanten „gemeinsamen Hauses Europa“ sei ausgeschlagen worden.

Reagan und Gorbatschow setzen 1987 den  Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag INF in Kraft, nach dem alle Flugkörper mit einer kurzen bis mittleren Reichweite der USA und der UdSSR/Russland zerstört werden sollten. imago images/United Archives International

Michail Gorbatschow (l.) und Ronald Reagan

Reagan und Gorbatschow setzen 1987 den Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag INF in Kraft, nach dem alle Flugkörper mit einer kurzen bis mittleren Reichweite der USA und der UdSSR/Russland zerstört werden sollten.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat Gorbatschow als mutigen Reformer gewürdigt. Der ehemalige sowjetische Staatschef habe vieles gewagt, sagte Scholz am Mittwoch am Rande der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg in Brandenburg. Seine Politik habe es möglich gemacht, „dass Deutschland vereint werden konnte und der Eiserne Vorhang verschwunden ist“.

Auch Russland habe dank Gorbatschow den Versuch unternehmen können, eine Demokratie zu etablieren. Nun sei er in einer Zeit gestorben, „in der nicht nur die Demokratie in Russland gescheitert ist“, sondern in der der russische Präsident Wladimir Putin auch neue Gräben in Europa ziehe. „Gerade deshalb denken wir an Michail Gorbatschow und wissen, welche Bedeutung er für die Entwicklung Europas und auch unseres Landes in den letzten Jahren hatte“, sagte Scholz.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Gorbatschow ebenfalls als „großen Staatsmann“ gewürdigt. „Deutschland bleibt ihm verbunden, in Dankbarkeit für seinen entscheidenden Beitrag zur deutschen Einheit, in Respekt für seinen Mut zur demokratischen Öffnung und zum Brückenschlag zwischen Ost und West, und in Erinnerung an seine große Vision von einem gemeinsamen und friedlichen Haus Europa“, erklärte Steinmeier am Mittwoch.

Gorbatschow habe in den vergangenen Jahren darunter gelitten, dass sein Traum in immer weitere Ferne rückte. „Heute liegt der Traum in Trümmern, zerstört durch den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine“, betonte Steinmeier.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte nach der Nachricht seines Todes die Bedeutung Gorbatschows für Europa heraus. „Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Beendigung des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs“, schrieb von der Leyen am Dienstagabend auf Twitter. Sie bezeichnete Gorbatschow als Führungspersönlichkeit, die zuverlässig und geachtet gewesen sei. „Er ebnete den Weg für ein freies Europa. Dieses Vermächtnis werden wir nie vergessen.“

Der britische Premierminister Boris Johnson schrieb auf Twitter: „Ich habe immer den Mut und die Integrität bewundert, die er gezeigt hat, indem er den Kalten Krieg zu einem friedlichen Ende brachte.“ Zudem stellte er Gorbatschow dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gegenüber. „Zu einer Zeit von Putins Aggression in der Ukraine bleibt sein unermüdliches Engagement für die Öffnung der sowjetischen Gesellschaft ein Vorbild für uns alle“, schrieb Johnson.

Emmanuel Macron, französischer Präsident, würdigte Gorbatschow als „Mann des Friedens“. Seine Entscheidung habe den Russen „einen Weg der Freiheit“ geöffnet, schrieb Macron auf Twitter. UN-Generalsekretär António Guterres bezeichnete Gorbatschow als einen „einzigartigen Staatsmann“, der den Lauf der Geschichte verändert habe. Die Aussage des Friedensnobelpreisträgers, dass Frieden nicht Einheit in Gleichartigkeit, sondern Einheit in Vielfalt sei, habe dieser mit seiner Politik in die Praxis umgesetzt.

Mit einem symbolischen Gang über den früheren Grenzkontrollpunkt Bornholmer Straße gedenken Bundeskanzlerin Merkel, Gorbatschow und dem früheren polnischen Gewerkschafter und Staatspräsidenten Walesa 2009 in Berlin des Mauerfalls vor damals 20 Jahren. dpa

Von links: Michail Gorbatschow, Lech Walesa und Angela Merkel

Mit einem symbolischen Gang über den früheren Grenzkontrollpunkt Bornholmer Straße gedenken Bundeskanzlerin Merkel, Gorbatschow und dem früheren polnischen Gewerkschafter und Staatspräsidenten Walesa 2009 in Berlin des Mauerfalls vor damals 20 Jahren.

Gorbatschow selbst hatte zu westlichen Politikern zuletzt ein eher gespaltenes Verhältnis. Er habe im Westen keine wahren Partner gehabt, die auch nur ansatzweise verstanden hätten, welches Risiko er mit seiner Politik von Glasnost und Perestrojka eingegangen sei, sagte Gorbatschow.

Statt sich auch selbst zu reformieren nach dem Kalten Krieg und gemeinsame Strukturen und Denkweisen zu schaffen, so klagte der Jahrhundertreformer, habe im Westen „reine Siegermentalität“ geherrscht. Und dies habe einem „Machtmenschen“ wie Putin geradezu den Weg geebnet.

Jahre vor seinem Tod hat Gorbatschow, der Unvollendete, noch versucht, Putin die Stirn zu bieten. Politisch bei Wahlen gescheitert mit sozialdemokratischen Kleinparteien, hat der Mann, den sie „Gorbi“ nannten, seinen Weltruhm und sein Vermögen eingesetzt, um oppositionelle Zeitungen wie die „Nowaja Gaseta“ über Wasser zu halten.

Sie war nach Putins Überfall auf die Ukraine, über den niemand in Russland mehr frei berichten darf, am Ende. Und so steht die Welt am Todestag Gorbatschows wieder da, wo sie bei seinem Amtsantritt 1985 stand: in einer Phase des Kalten Krieges. Damals beendete Gorbatschow diesen, jetzt baut Putin auf die neue Konfrontation.

Mit Agenturmaterial.

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