In Kolumbien protestieren die Menschen nicht mehr nur gegen umstrittene Reformen. Das Management der Coronakrise hat den Ärger auf die Regierung nur vergrößert.
Proteste in Kolumbien
Auslöser der Proteste in dem Land war eine Steuerreform der Regierung, die mittlerweile zurückgenommen wurde.
Bild: dpa
Mexiko-Stadt Knapp zwei Wochen nach Beginn der bürgerkriegsähnlichen Proteste gegen die Rechtsregierung in Kolumbien steigt der Druck auf Präsident Iván Duque von allen Seiten. Internationale Organisationen und südamerikanische Staaten fordern Dialogbereitschaft, ein Ende der Polizeigewalt und die Wahrung der Menschenrechte.
Im Land hat sich die Lage etwas beruhigt, bleibt aber hochexplosiv. Derweil werden in der Hauptstadt Bogotá und der faktisch belagerten Stadt Cali, dem Zentrum der Proteste, die Nahrungsmittel knapp. Auch die Versorgung mit Corona-Impfstoffen ist gefährdet.
Der rechtsgerichtete Staatschef, ein politischer Ziehsohn des früheren ultrarechten Präsidenten Álvaro Uribe, macht aus der Not heraus Zugeständnisse, führt Gespräche, sucht Konsens und trifft sich mit der Opposition.
Aber getragen wird der Protest nicht von der Politik, sondern der Zivilgesellschaft und vor allem der kolumbianischen Jugend. Der Auslöser der Proteste in dem Land war eine Steuerreform der Regierung, die mittlerweile zurückgenommen wurde. Doch die Proteste der Bevölkerung halten an. Die Situation ist vergleichbar mit den Protesten, die in Chile im Oktober 2019 losbrachen und sich gegen das gesamte Sozial- und Wirtschaftsmodell des Landes richteten. In Kolumbien ist das ähnlich.
Gewerkschaften, Lkw-Fahrer, Kleinunternehmer, Indigenen-Gruppen, Kleinbauern und afrokolumbianische Vereinigungen sind auf den Straßen und tragen die Proteste mit. Vorerst sollen die Gespräche zur Lösung der Krise auf Ebene der 32 Departamentos, der politischen Verwaltungsgebiete, geführt werden, um ein Ende des Konflikts und der Proteste zu ermöglichen.
Aber die Bilanz der vergangenen Tage ist desaströs. Mindestens 27 Menschen wurden seit Ende April getötet, fast einhundert gelten als verschwunden und sind mutmaßlich von der Polizei verschleppt worden. Und inzwischen führen die Straßenblockaden dazu, dass in Städten wie Bogotá, Cali und in den abgelegenen Regionen alle Arten von Waren des täglichen Bedarfs knapp sind.
Das Departamento Valle de Cauca, dessen Hauptstadt Cali ist, erklärte am Sonntag den Versorgungsnotstand, was dem Staat eine Notfallversorgung ermöglicht. Zudem kam es zu Schießereien zwischen der Polizei und Ureinwohnern. Offensichtlich mischten sich auch bewaffnete Banden und die organisierte Kriminalität in die Schießereien ein.
Unterdessen ermahnt die Uno die Regierung in Bogotá, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit zu wahren. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, verurteilte die Fälle von „Folter und Mord, die von den Sicherheitskräften“ begangen wurden.
Auch in den Vereinigten Staaten, dem wichtigsten Verbündeten Kolumbiens, steigt die Kritik aus dem Regierungslager. Die demokratische Senatorin Alexandria Ocasio-Cortez geißelte die „lange Liste der Menschenrechtsverletzungen durch die kolumbianische Regierung“. Weitere Demokraten warnten, der Konflikt könne die Sicherheitszusammenarbeit zwischen Washington und Bogotá gefährden.
Die südamerikanischen Regierungen schauen unterdessen genau nach Kolumbien, denn der Aufstand dort könnte sich leicht in Nachbarstaaten wiederholen und eine Welle der Rebellion in der Region gegen unfähige, unsensible oder schlicht undemokratische Regierungen auslösen.
Die Staaten Lateinamerikas steckten schon vor der Pandemie in einer schweren Krise. Und Corona hat die Armut und Ungleichheit dramatisch verschärft. Laut UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) stieg die Armut in der Region im vergangenen Jahr auf 33,7 Prozent und damit auf das höchste Niveau seit zwölf Jahren.
209 der 654 Millionen Lateinamerikaner haben nicht genügend Geld, um ihren Hunger zu stillen oder ein würdiges Dach über dem Kopf zu bezahlen. Die Wirtschaftskraft der Region fiel im ersten Pandemiejahr im Schnitt um 7,7 Prozent.
Erschwerend hinzu kommen die strukturellen und chronischen Malaisen der Region wie die enorm große Kluft zwischen Arm und Reich und der informelle Wirtschaftssektor, in dem mehr als die Hälfte der arbeitenden Latinos beschäftigt ist und der keinen sozialen Schutz bietet.
All das trifft auch auf Kolumbien zu. Vergangenes Jahr schrumpfte die Wirtschaft um 6,8 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg durch mehrere harte Lockdowns zeitweise auf 20 Prozent. 500.000 Geschäfte mussten seit Beginn der Pandemie schließen. 2,3 Millionen Familien können sich nur zwei Mahlzeiten am Tag leisten. Und die Armut stieg laut dem Statistikamt DANE auf 42,5 Prozent. Und als die Regierung in diesem Moment eine Steuerreform auf den Weg brachte, um die internationale Kreditfähigkeit zu erhalten, flippte die Bevölkerung schlicht aus.
Seit einer Woche ist das Gesetzesprojekt Geschichte. Aber vor allem für die Millionen jungen Kolumbianer geht es längst um mehr: um den Präsidenten, sein neoliberales Wirtschaftsprojekt und seinen Widerstand gegen das historische Friedensabkommen mit der Linksguerilla Farc von Ende 2016.
Der rechte Staatschef hatte völlig verkannt, dass inmitten der schweren dritten Welle der Coronakrise ein Projekt scheitern muss, das den Menschen noch mehr ökonomische Opfer abverlangt. Die Reform sollte 6,3 Milliarden Dollar (ungefähr zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts) in die Staatskasse der viertgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas spülen.
Dafür sollten auch diejenigen Einkommensteuer zahlen müssen, die umgerechnet nur 550 Euro im Monat verdienen. Zudem sollte die Mehrwertsteuer (19 Prozent) auf bisher ausgenommene Waren und Dienstleistungen erhoben werden, etwa auf Wasser, Strom und Gas sowie auf Beerdigungen und Computer.
Es sollten also vor allem die Armen und die Mittelklasse das Loch stopfen, das der Kampf gegen die Corona-Pandemie in den Staatshaushalt gerissen hat. Unternehmen und Banken hingegen wären fast ungeschoren davongekommen.
Leicht kann Duque die Rücknahme der Reform nicht gefallen sein. Er hört selten auf seine Bevölkerung, und noch weniger gern gibt er dem Druck der Straße nach. Das Image des Staatschefs, dessen erste Amtszeit kommendes Jahr endet, war schon vorher schlecht. Zwei Drittel der Kolumbianer bescheinigten ihm eine miserable Amtsführung. Die Zahl dürfte sich jetzt noch erhöht haben.
Zumal der Großteil der Bevölkerung Duque als Anwalt der Großindustriellen sowie der Bananen-, Zucker- und Bergbauoligopole wahrnimmt. Die Menschen hingegen fordern mehr Demokratisierung im Bildungs- und Gesundheitssektor und eine Abschaffung des Prinzips der Gewinnmaximierung in diesen Bereichen.
Duque sah sich schon Ende 2019 massiven sozialen Protesten gegenüber, als vor allem junge Kolumbianer gegen die langsame Umsetzung des Friedensprozesses sowie das ökonomische Modell des südamerikanischen Staates auf die Straße gingen.
Das defizitäre Management der Coronakrise hat den Ärger der Menschen auf die Regierung nur vergrößert. Bis Ende April wurden nur vier Millionen der 51 Millionen Kolumbianer mit einer ersten Anti-Corona-Impfdosis versorgt. Aber Duque versprach, dass es Ende Mai bereits acht Millionen Menschen sein sollen.
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