Es wird einsam um den türkischen Präsidenten: Führende AKP-Mitglieder verlassen die Regierungspartei. Neuwahlen könnten für Erdogan gefährlich werden.
Recep Tayyip Erdogan
Erdogans Zustimmungswerte sind bei aktuellen Umfragen bis auf 30 Prozent gesunken. Der türkische Staatschef weiß: Abweichler in der AKP können ihm gefährlich werden.
Bild: AP
Istanbul/Düsseldorf Der türkische Politiker Mustafa Yeneroglu hat sich jahrelang als Erdogan-Verteidiger einen Namen gemacht. Der in Köln aufgewachsene 44-Jährige trat häufig in deutschen Talkshows auf, wenn es Redebedarf gab: Putschversuch, Ausnahmezustand, Verfassungsänderung. Yeneroglu verstand sich darin, die Politik seines Regierungschefs zu erklären und zu verteidigen. Bis jetzt.
Vergangene Woche trat Yeneroglu aus Erdogans Partei AKP aus. Der Abgeordnete hatte offenbar große Probleme mit seinem Chef. Er habe in letzter Zeit immer wieder auf Defizite des Rechtsstaats hingewiesen und diese in Vorstandssitzungen kritisiert, erklärte Yeneroglu, der auch im Parteivorstand der AKP saß. Seine interne Kritik sei mit „zunehmendem Missmut und sogar Beleidigungen“ zur Kenntnis genommen worden. Schließlich habe Erdogan gefordert, dass er aus der Partei austrete.
Dass gerade Yeneroglu, der den Kurs Erdogans jahrelang verteidigt hatte, aus der Partei austritt, überrascht, reiht sich aber in eine Serie von Parteiaustritten ein. In diesem Herbst verließen bereits Ex-Premier Ahmet Davutoglu, Ex-Präsident Abdullah Gül sowie der ehemalige Finanzminister Ali Babacan die Partei. Auch einige AKP-Abgeordnete haben hingeschmissen. Der türkische Präsident, der per Verfassung in vielen Bereichen allein regieren kann, verliert seine einst engsten Mitstreiter.
Besonders heikel wird es im Parlament. Von 600 verfügbaren Sitzen beanspruchte die AKP nach der jüngsten Wahl 2018 anfangs 295 Sitze. Nur dank einer Koalition mit Nationalisten verfügt die AKP daher über eine komfortable Mehrheit.
Durch Yeneroglus sowie weitere Austritte hat die AKP bereits fünf Sitze verloren. Sollte die Partei weiter Abgeordnete verlieren oder der Koalitionspartner MHP abspringen, könnte es Neuwahlen geben müssen – sowohl für das Parlament als auch für den Präsidenten. Aktuellen Umfragen zufolge sähe es in dem Fall schlecht für Erdogan aus. Seine Zustimmungswerte sind bis auf 30 Prozent gesunken. Der türkische Staatschef weiß: Die Abweichler können ihm gefährlich werden.
Die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ („Adalet ve Kalkinma Partisi“, AKP) steht für manchen Funktionär inzwischen weder für das eine noch für das andere. Im Jahr 2002 an die Macht gekommen, versetzte die AKP unter Erdogan das Land in Aufbruchstimmung.
Von dieser sei aber wenig geblieben, meint der Politologe Bülent Kücük von der Istanbuler Bogazici-Universität. Erdogan habe sich an der Parteispitze gehalten, doch die Führungsriege sei komplett ausgetauscht worden. Vor allem liberale Parteimitglieder seien durch konservative Politiker ausgetauscht worden. „Der Rest, der geblieben ist, hat lediglich symbolischen Charakter und in der Regel keine großen Aufgabenbereiche zu verantworten“, beschreibt Kücük seine Sicht auf die AKP.
Die Konzentration der politischen Macht auf eine Person hat eine weitere Folge für den Präsidenten: Er ist der Einzige, der wirklich als Vertreter der Regierung wahrgenommen wird und noch für Schwung sorgen kann. Doch die vielen Krisen der vergangenen Jahre – teilweise selbst verursacht – haben an seinem Profil genagt. Erdogan ist zwar die mächtigste Person im Staat. Doch seine einstigen Unterstützer folgen ihm nicht mehr.
Vor der Militäroffensive in Syrien hat Erdogan laut Umfragen deutlich an Zuspruch verloren, auf bis zu 30 Prozent. Ihm seien nach 17 Jahren die Versprechen ausgegangen, um die Bevölkerung anzusprechen, vermutet der Wissenschaftler Kücük. Die wirtschaftliche Flaute der vergangenen Monate habe seiner Popularität den Rest gegeben.
Der Syrieneinmarsch diente zum einen dem lange verfolgten Ziel einer Sicherheitszone entlang der Grenze. Zum anderen sollte er die Zustimmung der Türken zu ihrem Präsidenten stärken. Das militärische Ziel wurde erreicht, das innenpolitische kaum. „Für Erdogan wird es immer schwieriger, diplomatischen Erfolg in politische Gestaltungsmacht umzumünzen“, sagt Kücük. Befeuert wird diese Wahrnehmung durch die jüngsten Kommunalwahlen im Land. Die größte Oppositionspartei CHP übernahm in fast allen Großstädten die Macht über die Rathäuser.
Politologe Kücük bezweifelt allerdings, dass die CHP oder eine andere Partei außer der AKP auf absehbare Zeit eine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich vereinen kann. Er bezeichnet die CHP als „agendalos“. Denn bei großen Themen ist sie sich mit der AKP einig: beim Syrieneinmarsch, bei der Verfolgung mutmaßlicher Putschisten oder beim Vorwurf gegenüber Europa, dort würden Terroristen der PKK beherbergt. Der neue Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu von der CHP könnte ein Wortführer sein, konzentriert sich bei seiner Arbeit aber auf Verbesserungen im Alltag und vermeidet ideologische Debatten.
Der ehemalige AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hatte im Sommer für diesen Herbst die Gründung einer neuen Partei angekündigt. Davutoglu, selbst Politikwissenschaftler, galt während seiner Amtszeit als bieder und nicht gerade volksnah.
Dass er im Parlament und beim Volk punkten kann, falls es zur Neuwahl kommen sollte, bezweifeln Experten wie Kücük. Mehr Chancen werden Ex-Präsident Gül und Ex-Finanzminister Babacan eingeräumt, sie gelten als liberal-konservativ.
Babacan gilt als Vater des türkischen Wirtschaftswunders vor über einem Jahrzehnt, Gül unterhielt in seiner Amtszeit bis 2014 gute Beziehungen zu europäischen Regierungen. Dass diese Beziehungen noch nachwirken zeigt hoher Besuch aus Deutschland: Ex-Bundespräsident Christian Wulff traf den Ex-Präsidenten im Sommer. Er bezeichnete Gül anschließend in einer kleinen Runde als „meinen lieben Freund Abdullah“.
Mehr: Wie die türkische Opposition Chancen gegen Erdogan verpasst: Der türkische Präsident regiert seit 17 Jahren – auch weil die Opposition sich nicht traut, Tabus zu brechen.
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