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13.02.2023

04:18

Türkei

Eine Woche nach dem Erdbeben: Zahl der Toten könnte weiter steigen

Von: Ozan Demircan

Die türkische Regierung wird für ihr Krisenmanagement kritisiert. Experten widersprechen – und warnen vor Tumulten im Erdbebengebiet. Die Zahl der Toten steigt auf über 35.000.

Präsident Erdogan räumte Versäumnisse teilweise ein. AP

Türkisches Militär in Antakya

Präsident Erdogan räumte Versäumnisse teilweise ein.

Kahramanmaras Allmählich weicht die Trauer der Wut. „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis vom österreichischen Bundesheer, das im türkischen Erdbebengebiet bei der Suche nach Verschütteten unterstützt. Auch das Technische Hilfswerk (THW) und die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany stoppten ihre Erkundungen und verwiesen auf die Sicherheitslage. Nach einer Unterbrechung setzten die Soldaten ihre Arbeit fort. Die türkische Armee habe den Schutz der Einheit übernommen. 

Am frühen Morgen des vergangenen Montags hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 am Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad mitteilte. 

Auch wenn am Wochenende noch Verschüttete lebend gefunden wurden, rechnen die Retter nun – eine Woche nach der Katastrophe – kaum noch mit Überlebenden. Die Zahl der bestätigten Toten liegt inzwischen bei mehr als 35.000.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen könnte die Zahl noch auf 50.000 oder mehr steigen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte dem Sender Sky News am Sonntag im Erdbebengebiet Kahramanmaras, Schätzungen seien schwierig, aber die Zahl der Todesopfer könnte sich „verdoppeln oder mehr“. „Und das ist erschreckend“, sagte er.

Auch Teams von mehreren Hilfsorganisationen aus Deutschland sind seit Tagen in dem Erdbebengebiet im Einsatz. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Sonntag in einem Telefonat die Lieferung von weiteren Zelten, Decken und Heizvorrichtungen zu. Über das sogenannte EU-Katastrophenschutzverfahren wurden der Türkei nach Angaben vom Sonntag schon jetzt 38 Rettungsteams mit 1651 Helfern und 106 Suchhunden angeboten. Zudem hätten zwölf EU-Staaten bereits 50.000 winterfeste Familienzelte, 100.000 Decken und 50.000 Heizgeräte zur Verfügung gestellt. Hinzu kämen 500 Notunterkünfte, 8000 Betten und 2000 Zelte, die die Kommission mobilisiert habe.

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Retter haben in der Türkei fünf Tage nach dem Beben mehr als zwölf Menschen aus den Trümmern gerettet. Das Team befreite am Samstag in Nurdagi zunächst eine Mutter und ihre Tochter, wie der Sender Habertürk berichtete. Später erreichten sie den Vater, der aber darauf bestand, zuerst müssten eine weitere Tochter und sein Sohn in Sicherheit gebracht werden. Als schließlich auch der Vater 129 Stunden nach dem Beben gerettet war, jubelten die Rettungskräfte „Gott ist groß“ und brachten den Mann in einen Krankenwagen.

Eine Stunde später wurden in Islahiye ein dreijähriges Mädchen und sein Vater gerettet, kurz darauf in der Provinz Hatay eine Siebenjährige, die fast 132 Stunden unter den Trümmern zugebracht hatte.

Am Morgen waren bereits vier weitere Überlebende gerettet worden, unter ihnen ein 16-Jähriger. Er wurde 119 Stunden nach dem Beben im türkischen Kahramanmaras aus den Überresten eines Hauses befreit, wie der Fernsehsender NTV berichtete. Mitglieder der türkisch-kirgisischen Rettungstruppe fielen sich ebenso wie Verwandte des Jugendlichen in die Arme. „Er ist raus Bruder, er ist raus. Er ist hier“, rief einer von ihnen. Der Gerettete Kamil Can Agas wollte erst einmal nur wissen: „Welchen Tag haben wir heute?“

Tausende haben durch das Erdbeben ihr Zuhause verloren. dpa

Antakya

Tausende haben durch das Erdbeben ihr Zuhause verloren.

Drei Stunden zuvor war eine 70-Jährige lebend befreit worden. In Antakya wurde ein 36 Jahre alter Mann aus einem eingestürzten Gebäude gezogen.

Doch die Rettungseinsätze endeten nicht überall glücklich. In der Provinz Hatay fanden Helfer zwar eine 13-Jährige, wie die Zeitung „Hürriyet“ berichtete. Sie intubierten sie, doch das Mädchen starb, bevor Mediziner ihr ein Körperteil amputieren konnten, das noch zwischen den Trümmern feststeckte.

Rückte das Militär zu spät aus?

Inzwischen wird auch Kritik an der Regierung laut, Helfer und staatliche Institutionen seien nicht schnell genug vor Ort gewesen. 

„Die Trümmer des Ein-Mann-Regimes“, titelt die regierungskritische Tageszeitung „Cumhuriyet“ am Sonntag. Zahlreiche Medien in der Türkei zitieren Experten, die das Krisenmanagement aus Ankara bemängeln. So sei bis heute kein Krisenstab eingerichtet worden. „In vielen Dörfern kam die Hilfe zu spät an“, klagen Bewohner. Das Militär sei im Vergleich zum Beben von 1999 zu spät ausgerückt.

Staatschef Recep Tayyip Erdogan nahm die Kritik zum Teil an. „In einigen Bereichen hat es Verzögerungen gegeben“, räumte er am Samstagabend ein. Doch niemand könne bezweifeln, dass die Regierung alles versucht habe.

In vielen Gebieten ist die Lage weiter dramatisch. IMAGO/NurPhoto

Kahramanmara in der Türkei

In vielen Gebieten ist die Lage weiter dramatisch.

Die Türkei hat drei Organisationen, die bei humanitären Einsätzen Hilfe leisten soll: AFAD, TIKA und Roter Halbmond (Kizilay). Die regierende AKP definiert dabei humanitäre Diplomatie als Schlüsselelement ihrer Außenpolitik. Sie unterstützt Staaten, in denen andere Geber fehlen oder die wie Somalia zu schwach entwickelt sind. Dazu werden Netzwerke zur Förderung außenpolitischer Ziele aufgebaut.

Innerhalb der Türkei geschah die Instrumentalisierung von Hilfsorganisationen vor dem Hintergrund der Unterdrückung der Zivilgesellschaft. Hinzu kommt: Gerade im Südosten des Landes wurden im Namen der Terrorbekämpfung viele Bürgermeister abgesetzt und durch Statthalter ersetzt.

Doch gewählte Bürgermeister verfügen über ein Netz an Kontakten und politischen Einfluss in den lokalen Gemeinschaften, die für die Koordinierung und Umsetzung von Hilfsleistungen, Rettungseinsätzen und Krisenmanagement benötigt werden. Von der Regierung ernannte Treuhänder haben diese Legitimität nicht.

Das Ergebnis: Lokale Einheiten sollten beauftragt werden, entsprechend den lokalen Bedürfnissen zu handeln. Das ist in der Türkei nach dem Beben kaum geschehen. Alles ist auf den Staat konzentriert. Und alle warteten auf den Staat.

Auf der anderen Seite halten Experten die Kritik für übertrieben. So meint Einsatzleiter Jörg Eger, der im Ort Kirikhan in der Provinz Hatay die Hilfe des THW koordiniert: „Das gesamte Einsatzgebiet für die Hilfskräfte ist fast so groß wie Deutschland, die Zerstörung durch zwei heftige Beben enorm“, erklärt er. „Es ist schier unmöglich, gleich in den ersten Stunden überall zu sein.“

Die Türkei will zugleich hart gegen mögliche Baumängel im Erdbebengebiet vorgehen. Bislang seien 131 Verdächtige ausgemacht worden, die für den Einsturz Zehntausender Gebäude verantwortlich sein könnten, sagte Vizepräsident Fuat Oktay am Sonntag. „Gegen 113 von ihnen wurden Haftbefehle erlassen.“ Die Türkei werde alle Umstände auch strafrechtlich aufklären.

Das Justizministerium habe in den zehn betroffenen Provinzen Untersuchungsbüros eingerichtet. Umweltminister Murat Kurum zufolge sind fast 25.000 Gebäude bei den Erdstößen am Montag eingestürzt oder schwer beschädigt worden.

Mit Agenturmaterial

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