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03.03.2023

21:18

Türkei

Wahlkampf ohne Gegenkandidaten – Erdogan-Gegner werden sich nicht einig

Von: Ozan Demircan

In zehn Wochen wird in der Türkei gewählt. Doch die Opposition ist zerstritten – und gibt Präsident Erdogan Gelegenheit, die Wahl doch noch für sich zu entscheiden.

Die Chefin der Oppositionspartei IYI hatte das Bündnis zunächst verlassen, um sich dann kompromissbereit zu zeigen. Reuters

Meral Aksener

Die Chefin der Oppositionspartei IYI hatte das Bündnis zunächst verlassen, um sich dann kompromissbereit zu zeigen.

Ankara Die türkische Opposition ist sich einig – eigentlich: Der Präsident Recep Tayyip Erdogan soll abgewählt werden. Wer den autokratischen Staatschef beim Urnengang herausfordern will, steht allerdings zehn Wochen vor der Wahl nicht fest.

Eine führende Oppositionspolitikerin in der Türkei hat am Freitag den Rückzug ihrer Partei aus einer Sechs-Parteien-Koalition angedeutet. Die Chefin der nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, gab am Freitag zu verstehen, das Bündnis sei wegen eines Streits über die Auswahl eines Gegenkandidaten nicht mehr dazu in der Lage, „den Willen der Nation bei seinen Entscheidungen widerzuspiegeln“.

„Die IYI-Partei in eine Zwickmühle geraten“, erklärte Aksener in einer wutentbrannten Rede, „gezwungen, eine Zumutung durchzusetzen, zwischen Tod und Malaria zu wählen“. Die Iyi-Partei werde sich dem nicht beugen.

Der türkische Staatschef Erdogan dürfte sein Glück kaum fassen können. Wochenlang war er nach der schlimmsten Erdbebenkatastrophe in der Geschichte der Türkei und dem Tod von mehr als 45.000 Menschen für das schwache Krisenmanagement kurz nach der Katastrophe kritisiert worden.

Doch jetzt muss der Präsident wohl vorerst nicht befürchten, dass er von der Opposition wegen mutmaßlichen Pfuschs am Bau oder Korruption an den Pranger gestellt wird. Jetzt kann er sich als Präsident darstellen, der inmitten einer Jahrhundertkatastrophe den Wiederaufbau vorantreibt, während seine Gegner um Posten schachern und sich in die Haare kriegen. "Sie kamen, sie sprachen, sie zerfielen", fasste es Erdogan am Samstag vor laufenden Kameras zusammen.

Grafik

Bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai will der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, antreten. Zwei andere Mitglieder seiner Partei, die Bürgermeister Mansur Yavas und Ekrem Imamoglu, schneiden allerdings in Umfragen besser gegen Erdogan ab.

Insider berichten seit Wochen von Zwist und Wortgefechten bei den Oppositionsparteien. „Funktionäre der Iyi-Partei berichten bereits, dass sie ein eigenes nationalistisches Bündnis bilden und einen eigenen Kandidaten nominieren könnten“, schreibt der Kolumnist Muharrem Sarikaya von der Zeitung „Habertürk“ am Freitag.

Zu dem Bündnis gehören neben der CHP auch zwei Abspaltungen von Erdogans AKP: die Deva-Partei von Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan und die Gelecek-Partei vom ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Außerdem gehören die Demokrat Partisi und die Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei) dem Bündnis an.

Die größte Oppositionspartei CHP will den eigenen Parteichef Kemal Kilicdaroglu aufstellen. Reuters

Kemal Kilicdaroglu

Die größte Oppositionspartei CHP will den eigenen Parteichef Kemal Kilicdaroglu aufstellen.

Der türkische Staatschef Erdogan gilt seit der Erdbebenkatastrophe Anfang Februar als politisch angeschlagen. Doch ohne einen Gegenkandidaten könnte sich Erdogan in der Wahl behaupten, obwohl sich eine wachsende Anzahl Menschen im Land die Abwahl des autokratischen Regierungschefs wünscht.

Die politischen Folgen des Erdbebens boten der Opposition eine Gelegenheit, Erdogan herauszufordern. Dem Oppositionschef Kilicdaroglu sei es gelungen, sein Ansehen in den vergangenen zwei Wochen zu stärken, sagt Wolfango Piccoli von der Beratungsfirma Teneo. „Er nutzte die Gelegenheit, nach der verheerenden Naturkatastrophe in die Offensive gegen Erdogan zu gehen.“

Auch die extrem hohe Inflation sei eine gute Gelegenheit für die Opposition, ihren Einfluss zu stärken. Am Freitag hatte das nationale Statistikinstitut bekannt gegeben, dass die Teuerungsrate immer noch bei mehr als 50 Prozent liege.

Doch der Großteil der Opposition beschäftigt sich mehr mit sich selbst als mit den Wählerinnen und Wählern. So konnte sich das Bündnis bislang nur darauf einigen, im Falle eines Wahlsiegs unter anderem das Präsidialsystem wieder in ein parlamentarisches System zu überführen, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit zu stärken und die Macht des Präsidenten zu beschneiden. Wie sie das Land führen und die ökonomischen Probleme beseitigen wollen, ist bislang völlig unklar.

Nach dem Rücktritt der Iyi-Partei kommen nun immer mehr Gerüchte auf, dass die Allianz gegen Erdogan weiter zerfallen könnte. Sollte das der Fall sein, laufen die Oppositionsparteien Gefahr, von Verbündeten zu Konkurrenten zu werden und sich gegenseitig Stimmen zu stehlen. Profitieren würde davon vor allem Erdogan.

Umfragen zeigen kein deutliches Bild

Die Ergebnisse zweier Umfragen nach dem Erdbeben geben kein deutliches Bild ab. Die Befragung der türkischen Umfragefirma ORC rund zwei Wochen nach dem Erdbeben sieht Erdogans Partei AKP erstmals unterhalb der 30-Prozent-Marke. Demnach kommt die Regierungspartei auf 29,1 Prozent, die CHP auf 23,5 und die Iyi-Partei auf 19,5 Prozent.

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden im Schatten der Auswirkungen des Erdbebens Anfang Februar mit mehr als 45.000 Toten statt. via REUTERS

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden im Schatten der Auswirkungen des Erdbebens Anfang Februar mit mehr als 45.000 Toten statt.

Die HDP, die keiner Allianz angehört, erreicht 8,1 Prozent und Erdogans Koalitionspartner MHP 5,4 Prozent. Die Regierung würde dieser Umfrage zufolge ihre Mehrheit im Parlament verlieren.

Eine Umfrage des Instituts Team sieht die Allianz von AKP und MHP hingegen bei gut 44 Prozent, rund zehn  Prozentpunkte mehr als in der ORC-Umfrage. Für einen statistischen Fehler ist der Unterschied zu groß. Auch der Befragungszeitraum war knapp zwei Wochen nach dem Erdbeben nahezu identisch.

Wahrscheinlich ist, dass einige der Befragten noch keine eindeutige Tendenz haben, wen sie wählen wollen. Eine geeinte Opposition könnte diesen Umstand für sich nutzen. Doch davon scheinen Erdogans Gegner derzeit weit entfernt.

Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden im Schatten der Auswirkungen des Erdbebens Anfang Februar mit mehr als 45.000 Toten statt. Mindestens zwei Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,6 zerstörten binnen weniger Stunden Häuser, Straßen und Infrastruktur auf einer Fläche von einem Drittel Deutschlands.

Der Aufbau wird Jahre dauern und nach Angaben der Weltbank 34,8 Milliarden US-Dollar kosten. Erdogan will dennoch am 14. Mai als Wahltermin festhalten.

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