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10.08.2022

19:29

Russlands Truppen bereiten sich seit Anfang August verstärkt auf einen ukrainischen Gegenschlag vor. dpa

Soldaten

Russlands Truppen bereiten sich seit Anfang August verstärkt auf einen ukrainischen Gegenschlag vor.

Ukraine-Krieg

Chersons Bewohner warten auf ihre Befreiung: „Wenn wir keine ukrainischen Raketen sehen, werden wir ganz nervös“

Von: Maria Kotsev, Valeriia Semeniuk
Quelle:Tagesspiegel

Drei Frauen aus der russisch okkupierten Stadt Cherson erzählen, wie sich die Menschen auf den Gegenschlag der Ukraine vorbereiten. Einige sind dabei weniger optimistisch, bald befreit zu werden.

Noch ist wenig von ihr zu sehen, doch die ukrainische Regierung kündigte ihre Gegenoffensive auf Cherson bereits vor etwa einem Monat an. Präsident Wolodimir Selenski soll seinem Militär damals befohlen haben, mithilfe westlicher Waffen die von Russland besetzte Stadt zurückzuerobern. So erzählte es Verteidigungsminister Olexij Resnikow in einem Interview mit der britischen „Sunday Times“.

Nur wenige Wochen zuvor waren amerikanische Himars-Raketenwerfer in der Ukraine angekommen, sie sollten der neue Trumpf gegen die russischen Besatzer werden. Und in der Tat: Allein durch die Ankündigung der Gegenoffensive hat die Ukraine Russland zur Änderung seiner Militärstrategie bewegt.

Russlands Truppen bereiten sich seit Anfang August verstärkt auf einen ukrainischen Gegenschlag vor. Dies sei nun „das erste Mal“, dass die Ukraine den Kriegsverlauf aktiv mitbestimmt, schreibt das „Institute for the Study of War“.

Die Dynamik des Krieges verändert sich, das merken auch die Einwohner und Einwohnerinnen Chersons, die seit dem 2. März unter russischer Besatzung leben. Sie beobachten, dass neue russische Soldaten in die Stadt kommen, und sind beunruhigt, wenn mal keine ukrainische Rakete über sie hinwegfliegt. Heißt das, dass die Armee sie doch nicht befreit?

In der Stadt sprechen die Bewohner nur noch über die sehnlichst erwartete Gegenoffensive. Doch warum sind sie nicht einfach geflohen? Der „Tagesspiegel“ hat mit Menschen aus Cherson gesprochen, die geblieben sind. Und mit solchen, die bleiben wollten, sich aber gezwungen sahen zu gehen.

Oksana Naumova, Journalistin

„Ich wollte das besetzte Cherson eigentlich nicht verlassen. Stattdessen beschloss ich zu kämpfen – obwohl meine Freunde mir sagten, ich sei verrückt. Nachdem die Russen Cherson besetzt hatten, bezeichnete ich die russischen Besatzer in meinen Beiträgen als „Orks“ und „Raschisten“ (ein Kofferwort der Wörter Russland und Faschismus, Anm. d. Red.). Das war meine Form des Protests.

Doch eines Tages kamen Beamte des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in meine Wohnung. Sie wandten keine Gewalt gegen mich an – wie bei vielen anderen Chersonern. Sie drohten mir lediglich sieben Jahre Gefängnis an. Ich wurde also vorsichtiger mit meinen Posts, schrieb aber weiterhin, dass ich auf die Befreiung Chersons wartete.

Um ehrlich zu sein, hatte ich Angst, dass sie mich sofort verhaften würden. Aber stattdessen gingen sie wieder, und ich beschloss, auch zu gehen. Aktuell bin ich in Kiew, meine Flucht ist rund einen Monat her. Ich glaube, ich wurde von einigen meiner sogenannten Kollegen, die zu den Besatzern übergelaufen waren, an die Russen verraten.

Natürlich verlassen viele Menschen Cherson. Inoffiziellen Schätzungen zufolge haben das bereits 50 bis 60 Prozent der Bewohner getan. Aber nicht jeder kann gehen. Es gibt zwei Möglichkeiten zur Evakuierung: auf die Krim oder nach Saporischschja. Die Flucht auf die Krim ist billiger und einfacher, weil man sich die ganze Zeit auf russisch kontrolliertem Territorium befindet.

Die Journalistin lebt mittlerweile in Kiew.  privat

Oksana Naumova

Die Journalistin lebt mittlerweile in Kiew.

Aber für mich, wie für viele andere, war es entscheidend, auf ukrainisches Gebiet zu fliehen. Das kostet etwa 120 bis 150 Euro, denn der Weg auf der Straße ist sehr beschwerlich, man muss mehrere Dutzend Kontrollpunkte passieren, erst russische und dann ukrainische.

Die Reise dauert mehrere Tage, obwohl es von Cherson nach Saporischschja nur 300 Kilometer sind. Ich hoffe, dass ich nicht länger als anderthalb, höchstens zwei Monate in Kiew bleiben werde – dann werde ich nach Cherson zurückkehren und rechtzeitig zur Wassermelonensaison da sein.“

Wassermelonen sind eine Art Markenzeichen der Stadt Cherson – Chersoner Melonen wurden vor dem Krieg in der ganzen Ukraine verkauft. Aufgrund der russischen Okkupation gelangen sie dieses Jahr allerdings nicht aus der Stadt. In den ukrainischen sozialen Medien verbreitete sich nun ein Meme, das den Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee mit seiner Frau auf der strategisch wichtigen Antonow-Brücke über dem Dnepr in Cherson zeigt, die von der ukrainischen Armee zerstört wurde.

Seine Frau sagt auf dem Meme: „Ich möchte eine Wassermelone aus Cherson.“ Er antwortet: „Ich habe verstanden. Ich hole sie.“ Für die Ukrainer gilt dies als Symbol dafür, dass sich die ukrainische Armee auf die Befreiung von Cherson vorbereitet.

Anna, arbeitslos

„Ich bin bereit, um jeden Preis auf die Befreiung Chersons zu warten. Ich weiß, dass eine Gegenoffensive sehr wahrscheinlich zivile Opfer fordern wird. Aber wir in Cherson freuen uns trotzdem schon darauf. An Tagen mit wenigen Explosionen werden wir schon ganz unruhig – weil das nicht dafür spricht, dass eine Gegenoffensive kurz bevorsteht.

Außerdem sind wir an die Explosionen gewöhnt und haben gelernt, sie zu unterscheiden. Das Schlimmste ist, wenn die russische Luftabwehr versucht, ukrainische Raketen abzuschießen, die über uns fliegen. Dann fallen die Tassen vom Tisch.

Luftaufnahme der beschädigten Antonow-Brücke in Cherson. imago images/ITAR-TASS

Brücke in Cherson

Luftaufnahme der beschädigten Antonow-Brücke in Cherson.

Ich hatte keine andere Wahl, als zu bleiben. Meine Mutter ist schwer krank, eine Evakuierung würde sie nicht überleben. Deswegen kränkt es mich, wenn es heißt, dass alle antirussischen Chersoner gegangen sind und nur die Watniks (so werden prorussische Ukrainer in der Ukraine genannt, Anm. d. Red.) geblieben sind und darauf warten, sich Russland anzuschließen. Das ist nicht wahr!

Es ist ein schreckliches Gefühl, dass die Russen auf unseren Straßen spazieren gehen und in den Geschäften Lebensmittel kaufen. Andererseits muss ich mit Schrecken feststellen, dass ich mich bereits daran gewöhnt habe. Vielleicht ist es das Stockholm-Syndrom, vielleicht ist es auch nur mein Selbstschutzmechanismus, damit meine Psyche nicht völlig zerbricht.

Und in letzter Zeit sieht man hier mehr russische Soldaten. Daraus schließen wir, dass sie Cherson nicht kampflos verlassen werden. Was mir noch auffällt: Früher waren es müde und seit Langem unrasierte Soldaten. Doch jetzt rotieren die Truppen offenbar.

Sie alle waren frisch rasiert und rochen nach Eau de Cologne. In den Geschäften kaufen sie säckeweise Zwiebeln, Zucker, Mehl und literweise Sonnenblumenöl. Es sieht so aus, als würden sie den Winter hier verbringen wollen.“

Die russischen Truppen bereiten sich schon auf einen Schlag des ukrainischen Militärs vor. Das will der britische Geheimdienst mit „ziemlicher Sicherheit“ sagen können. „Der Krieg wird bald in eine neue Phase eintreten“, schreibt der Geheimdienst auf Twitter. Demnach würden sich lange Konvois aus russischen Militärlastwägen, Panzern und Artillerie aus dem Donbass in den Südwesten der Ukraine und auf die Krim bewegen.

Der Bürgermeister der nah gelegenen Stadt Mykolaijv, die unter ukrainischer Kontrolle steht, schrieb am Sonntag auf Telegram, es würden täglich drei bis vier russische Konvois beladen mit Militärtechnik durch die Stadt fahren.

Bataillone mit einer Stärke von 800 bis 1000 Mann sollen auf der Krim stationiert sein und mit großer Wahrscheinlichkeit zur Unterstützung der russischen Truppen in Cherson dienen. Die Ukraine versucht derweil, die Vorbereitungen des Gegners zu sabotieren: Sie zerstört Brücken, Munitionsdepots und Schienen im besetzten Süden. Die Russen behalfen sich daraufhin mit einer provisorisch nachgezimmerten Brücke.

Mary, Leiterin einer Hilfsorganisation

„Die Chersoner beginnen ihren Morgen stets damit, den Telegram-Kanal von „Nikolaev Vanek“ zu lesen. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich ein Soldat, dessen Einheit in Mykolaijw stationiert ist. Wenn die ukrainische Gegenoffensive kommt, dann wird er zu denen gehören, die sie ausführen. In der Stadt gibt es derzeit kein anderes Thema.

Die Stadt wird verstärkt von der russischen Armee beschossen. Imago Nur Photos Maciek Musialek

Rakete im Getreidefeld bei Mykolajiw

Die Stadt wird verstärkt von der russischen Armee beschossen.

Es ist paradox, aber wir freuen uns, wenn ukrainische Raketen über unsere Köpfe fliegen, weil wir das Gefühl haben, dass die Befreiung nahe ist. Aber seien wir ehrlich, die Russen haben die Außenbezirke von Cherson fest im Griff, und es wird nicht leicht sein, sie zu vertreiben. Aber ich bin bereit zu warten. Wir bereiten Holz für den Winter vor, denn es ist klar, dass es kein Gas geben wird. Heute habe ich zudem 20 Gläser Marmelade gemacht.

Natürlich befürchten wir, dass Cherson ein zweites Mariupol wird. Deshalb denke ich, dass es für Menschen mit schwachen Nerven besser ist, die Stadt zu verlassen, wenn sie können. Ich bin nicht gegangen, weil ich eine stabile Psyche habe und mich als Leiterin einer öffentlichen Einrichtung verantwortlich fühle. Unsere Organisation leistet ehrenamtliche Arbeit, wir helfen alten, einsamen Menschen, das ist jetzt sehr wichtig, und ich betrachte es als meine Aufgabe.

So berichtet das Handelsblatt über den Ukrainekrieg und die Folgen:

Ich bin unheimlich stolz auf die Menschen in Cherson, die jetzt in der Partisanenbewegung aktiv sind. Sie gewinnt in der Stadt gerade an Stärke. Die Chersoner spüren Standorte von russischen Militäreinrichtungen auf und melden sie der ukrainischen Armee. Vor einer Woche sprengten Guerillas ein Auto mit russischen Polizisten in die Luft, und im Juli erschossen sie zwei russische Soldaten in einem Café.

Eine verlassene Schule im Dorf Bilozirka, die die Russen als Hauptquartier nutzten, bevor sie sich aus Mykolajiw zurückzogen. Imago Nur Photos Maciek Musialek

Verlassene Schule

Eine verlassene Schule im Dorf Bilozirka, die die Russen als Hauptquartier nutzten, bevor sie sich aus Mykolajiw zurückzogen.

Jene, die sich nicht an solchen radikalen Aktionen beteiligen wollen, hängen ukrainische Symbole in der Stadt auf – Bänder, Plakate, Flugblätter. Sie schreiben an Hauswände: „Ruhm den Streitkräften der Ukraine“, „Cherson gehört zur Ukraine“ oder einfach nur den Buchstaben „Ї“ (Der Buchstabe kommt im ukrainischen, aber nicht im russischen Alphabet vor, Anm. d. Red.). Die Besatzer übermalen die Symbole daraufhin, doch sie tauchen immer wieder auf.

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