Atomkraftwerk Saporischschja
Das größte europäische Kernkraftwerk in der Ukraine ist von russischen Soldaten besetzt.
Bild: Reuters Alexander Ermochenko
Die Atomreaktoren von Saporischschja werden von russischen Militärs kontrolliert und von ukrainischen Mitarbeitern gesteuert. Welche Gefahren birgt das?
Berlin Der Stress für die Kraftwerksmannschaft von Saporischschja lässt sich nur erahnen: Draußen tobt der Krieg – und drinnen inzwischen auch. Das größte Atomkraftwerk Europas, das mit seinen sechs Reaktoren am Dnepr im Frontgebiet steht, ist von Russland besetzt – und soll nun vom ukrainischen Netz abgekoppelt werden. Das könnte nicht nur die Stromversorgung der Ukraine gefährden. Auch die Gefahr für einen nuklearen Unfall wächst.
Das Kraftwerk ist längst auch Teil des russischen Wirtschafts- und Energiekrieges. Im UN-Sicherheitsrat ist das Thema auf der Tagesordnung, die Internationale Atomenergie-Organisation sieht die Situation vor Ort außer Kontrolle.
Die sieben führenden demokratischen Wirtschaftsmächte fordern Moskau auf, das Kraftwerk wieder der Kontrolle der Ukraine zu unterstellen. Doch danach sieht es nicht aus. Ein Überblick über die fünf größten Gefahren.
Sebastian Stransky ist Leiter der Abteilung internationale Projekte bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), Experte für Reaktoren sowjetischer und russischer Bauart. „Wir kennen das Kraftwerk und die Reaktoren wirklich sehr gut“, betont er im Gespräch mit dem „Tagesspiegel“.
„Dass so ein Kraftwerk mal Gegenstand von militärischen Handlungen werden würde, dass es sogar in Geiselhaft durch die russische Armee genommen werden könnte, war für mich nicht vorstellbar.“ Das widerspreche allen Regeln, die international bis dato gegolten hätten.
Nach Angaben der ukrainischen Atomaufsicht hätten die Russen Waffen und militärisches Gerät in die Turbinenhallen der Blöcke eins und zwei gebracht, um es dort zu schützen vor ukrainischen Drohnenangriffen. Zudem gibt es Berichte, dass die Anlage nun als Abschussort genutzt wird, um von der Ukraine gehaltene Gebiete zu beschießen.
Bei russischen Bombardements in der Nähe des Atomkraftwerks sind nach Angaben der örtlichen Behörden am Mittwoch 13 Zivilisten getötet worden. Die Gefahr liegt in einer Provokation, die dann unkontrollierte Folgereaktionen haben kann. Der Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Florian Gering, nennt mehrere erhebliche Risiken für den sicheren Weiterbetrieb des Kernkraftwerks Saporischschja.
An erster Stelle stünden die Kampfhandlungen selbst. Zwar seien Kernkraftwerke wie das in Saporischschja weitestgehend gegen zivile Einwirkungen von außen abgesichert, „aber nicht gegen militärische Einwirkungen wie zum Beispiel einen direkten Beschuss mit panzerbrechenden Waffen“. Kremlsprecher Dmitri Peskow warnt, dass ein ukrainischer Beschuss des Werks „mit katastrophalen Folgen für weite Gebiete, für ganz Europa verbunden sei“.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sagt, dass der russische Beschuss von dort und die Verminung der Anlage einer „nuklearen Erpressung“ gleichkämen. Was genau vor Ort passiert, wer für welche Zwischenfälle verantwortlich ist, lässt sich bisher kaum exakt eruieren.
Der GRS-Experte Stransky betont, auch die ukrainische Atomaufsicht habe nur telefonischen Kontakt zu den dort unter russischer Kontrolle im Drei-Schicht-Betrieb arbeitenden Betriebsangehörigen. „Wir haben zwar keinen direkten Kontakt zu den Mitarbeitern vor Ort, wir können uns aber vorstellen, dass sie außergewöhnlichen psychischen Belastungen ausgesetzt sind“, sagt der Experte. „Und dies verletzt einen der zwei Grundsätze für einen sicheren Betrieb.“
Atomkraftwerk Saporischschja von oben
Das Atomkraftwerk ist mit sechs Blöcken und 5700 Megawatt Gesamtleistung das leistungsstärkste Europas.
Bild: Imago Images Imago SNA Konstantin Mihalchevskiy
Der eine sei die technische Sicherheit durch sicherheitstechnische Einrichtungen und Aggregate, der andere sei die organisatorische Sicherheit. Dieser Grundsatz bedeute, dass die Mitarbeiter in aller Ruhe, ohne Stress, ohne Druck und Beeinflussung von außen arbeiten können. Das müsse sichergestellt sein, „damit die Mitarbeiter in Ruhe ihre Entscheidungen treffen und den Reaktor fahren können“.
Gerade in Stresssituation brauche es mitunter unkonventionelle Entscheidungen. Keiner wisse, was in Stresssituationen passiere, wenn nicht Fachleute das Kommando haben, sondern mit Kernkraft unerfahrene Militärs Mitarbeiter mit Waffengewalt zu Entscheidungen zwingen können. Dieses Szenario bereitet dem BfS-Experten Gering große Sorgen.
„Die Angestellten dort arbeiten unter extrem hohem Druck: Sie sorgen sich um ihre Sicherheit und die ihrer Familien und tragen gleichzeitig eine hohe Verantwortung“, sagt Gering. „Der Betrieb eines Kernkraftwerks ist eine hochkomplexe Angelegenheit.“ Das Zusammenspiel mit den russischen Besatzern des Kraftwerks verkompliziere die Lage enorm.
Wenn es eine gute Nachricht gibt, sagt GRS-Fachmann Stransky, dann ist das die große Stabilität der Reaktorengebäude. Mit 5700 Megawatt Gesamtleistung ist Saporischschja das leistungsstärkste Kernkraftwerk Europas, doch von den sechs Reaktoren laufen derzeit nur zwei mit gedrosselter Leistung. Die Reaktoren der zweiten Generation seien vergleichbar mit dem Design von Reaktoren westlicher Bauart, die umschließende Hülle, das Containment, sei aus Stahlbeton, sagt Stransky.
Sie seien ausgelegt gegen den Absturz eines Flugzeugs von zehn Tonnen Gewicht mit einer Geschwindigkeit von 750 Stundenkilometern, was einer kleinen Militärmaschine entspricht. „Und das ist eigentlich schon eine ganze Menge“, erklärt der Experte. Das sei nur die nachgewiesene Auslegung. „Wir wissen, dass die Russen die Reaktoren zu Sowjetzeiten sehr konservativ ausgelegt haben damals.“
Also könne man davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich sogar mehr aushalten würden. „Und genau diese Auslegung gereicht uns aus meiner Sicht, wenn man das überhaupt so sagen darf, in der heutigen Situation zum Vorteil.“ Das bedeute, ein Treffer auf das Containment durch eine Granate oder eine kleine Rakete würde es nicht wirklich schädigen können.
Und wenn es beschädigt werden würde, bedeute das nicht zwangsläufig, dass es zu einem kerntechnischen Unfall komme, betont Stransky. Den gäbe es erst, wenn durch den Angriff entweder die Einbauten des ersten Kreislaufs massiv so beschädigt würden, dass es zu einem Leck käme. Oder wenn man es nicht mehr schafft, die Abwärme abzuführen, die nach dem Abschalten des Reaktors durch den Zerfall der radioaktiven Spaltprodukte weiterhin entsteht.
IAEO-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi
Er spricht bei einer Pressekonferenz über die Situation im Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine.
Bild: picture alliance dpa AP
Die Sicherheitssysteme seien zweifach redundant ausgelegt, das heißt, sie haben unabhängige Stränge. „Und wenn einer dieser Stränge funktioniert, dann kriegen sie die Wärme aus dem Reaktor abgeführt.“ Allerdings weist der Gouverneur von Saporischschja, Alexander Starukh, darauf hin, dass die Lagerstätten für abgebrannte Brennstäbe in der Anlage nicht so gut geschützt seien wie die Reaktoren – hier liegt also ein erhöhtes Risiko für einen nuklearen Unfall, der die ganze Region verstrahlen lassen könnte.
Kommt es zu einem Unfall oder einem Kappen der Stromversorgung, ist die Frage, wie stabil die Notstromversorgung ist. Der BfS-Experte Gering betont, auch heruntergefahrene Kernkraftwerke benötigen eine erhebliche elektrische Leistung, um die Kühlung der Brennelemente sicherzustellen und eine Kernschmelze zu verhindern.
Auch müssen Störungen der Versorgungsketten und Transporte zu und von dem Kraftwerk, zudem auch Störungen der Strahlungsüberwachung in der Anlage verhindert werden. Dafür gibt es Diesel-Notstromaggregate. Damit diese bei möglichen Angriffen nicht für zusätzliche Explosionen sorgen, sind sie unterirdisch gelagert. Der Treibstoff für die Dieselgeneratoren reicht für sieben Tage.
Kommandeur eines Bataillons der Territorialen Verteidigung
Mit dem Decknamen Staryi (oder Bohun) ist der Kommandeur in der Region Saporischschja im Südosten der Ukraine im Einsatz.
Bild: picture alliance dpa Ukrinform
Zudem habe die Ukraine nach Fukushima wichtige Nachrüstmaßnahmen als Ergebnis eines Stresstests durchgeführt, sagt GRS-Experte Stransky. „Die Ukraine ist eines der Länder, die zwar nicht zur Europäischen Union gehören, sich aber trotzdem freiwillig dem für die europäischen Kernkraftwerke verpflichtenden Stresstest unterzogen haben“, sagt er.
Die Nachrüstung beinhaltete die Beschaffung mobiler Notstromdiesel, wenn die stationären Diesel ausfallen. Und die Möglichkeit zur Einspeisung von zusätzlichem Wasser, um die Kühlung des Reaktors auch im Extremfall gewährleisten zu können. „Ein Standard, der auch in westlichen Reaktoren so ist.“ Nach dem Beschuss einer 330-Kilovolt-Leitung am 5. August sei ein Reaktor in dem Kraftwerk kontrolliert heruntergefahren worden und in die Notstromversorgung gegangen – das habe also funktioniert.
Die Ukraine hat just fünf Stunden vor Kriegsbeginn einen strategischen Schritt getan, der auch zu den Hintergründen dieses Konflikts gehört. „Am 24. Februar um null Uhr, also fünf Stunden bevor Wladimir Putin den Angriffsbefehl erteilt hat, hat sich die Ukraine vom russischen und weißrussischen Stromnetz entkoppelt“, sagt Sebastian Stransky von der GRS.
Wir brauchen Geld, um alle Ausgaben zu decken, denn wir haben einen erheblichen Konsumrückgang. Lana Zerkal, Beraterin des ukrainischen Energieministers
Die Netze waren bis zu diesem Zeitpunkt noch aus Sowjetzeiten verbunden, belieferten sich also gegenseitig mit Strom. Die Ukraine habe das gekappt, um einige Wochen später an das europäischen Netz ankoppeln zu können. Im Zuge der Energiekrise in Europa und enorm hoher Strompreise – auch durch die Gasverstromung – will die Ukraine ihre klammen Kassen mit Stromexport füllen.
„Wir brauchen Geld, um alle Ausgaben zu decken, denn wir haben einen erheblichen Konsumrückgang“, sagte die Beraterin des ukrainischen Energieministers, Lana Zerkal, dem „Tagesspiegel“ in Kiew. Allerdings gebe es bisher technisch erst die Möglichkeit, 250 Megawatt nach Europa zu exportieren und einzuspeisen – die Netzbetreiber argumentieren mit möglichen Netzschwankungen. Zerkal sieht ein Potenzial von 1,5 Gigawatt. „Wir haben einen Überschuss in der Stromproduktion“, sagt sie. Doch in diesen Plänen spielt das AKW Saporischschja eine zentrale Rolle.
Vor dem Krieg lieferte die Anlage rund die Hälfte der mit Kernkraft erzeugten Elektrizität der Ukraine. Das Land hat aktuell 15 Druckwasserreaktoren in vier aktiven Anlagen plus die stillgelegte Anlage von Tschernobyl, in der es 1986 zur Katastrophe kam.
Russland soll nun versuchen, einen Anschluss des AKW Saporischschja an die von Russland annektierte Halbinsel Krim herzustellen, es also vom ukrainischen Netz zu nehmen. Schon jetzt werden auch russisch besetzte Gebiete im Süden der Ukraine zentral über das Kraftwerk versorgt, die Ukraine wiederum droht ihrerseits mit einem Kappen dieser Leitungen.
Kernkraftwerk Saporischschja
Ein Stromerzeugungsblock im Kernkraftwerk Saporischschja in der Stadt Enerhodar im Süden der Ukraine.
Bild: picture alliance dpa AP
„Ich denke, unsere Streitkräfte werden dazu bereit sein, wenn es nötig ist“, sagt der Chef des staatlichen Atomkraftwerksbetreibers Energoatom, Petro Kotin. Ihm zufolge will Russland seit Langem das AKW mit der Krim verbinden. „Dafür muss das Kraftwerk komplett vom ukrainischen Energiesystem abgeschaltet und an die Leitung angeschlossen werden, welche die Krim mit dem Wasserkraftwerk Kachowka verbindet.“ Die ukrainischen Truppen würden aber die Stromleitungen beschießen, wenn Russland das Atomkraftwerk an sein Netz anschlösse. Hier droht die Gefahr einer unkontrollierbaren Kettenreaktion.
Laut Stransky ist das Anschließen an eine neue Leitung jedoch alles andere als einfach. „Zurzeit ist es so, dass sich die ukrainischen Kraftwerke und das ukrainische Netz mit Europa synchronisieren, das ist eine andere Frequenz und Phasenlage als im russischen und weißrussischen Netz.“ Die Leitungen, über die das AKW einspeist, würden zunächst getrennt, um sie dann mit dem russischen Netz zu verbinden. „Es gibt aber keine direkte Leitung von dort zur Krim, die ist von den Ukrainern nach 2014 gekappt worden.“
Man müsste dann erst einmal Teile des ukrainischen Netzes, Kraftwerke im Donbass, inklusive Saporischschja, in einen Inselbetrieb überführen. „Dafür reicht aber nicht ein Kraftwerk, dazu brauchen sie mehrere Kraftwerke, um das stabil hinzukriegen.“ Erst dann könnte man versuchen, dieses Inselnetz mit dem russischen zu synchronisieren. „Das ist eine ziemlich diffizile Angelegenheit“, sagt Stransky. „Nach dem Motto, wir machen das mal nebenbei, ist das schwerlich zu schaffen, ganz besonders unter Kriegsbedingungen.“
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