Russen haben kaum noch Zugang zu freien sozialen Medien. Eine Cybersicherheitsexpertin erklärt, wie sich die digitalen Kanäle in Kriegsschauplätze verwandelt haben.
Russland und Ukraine kämpfen um Meinungshoheit im Netz
Nutzerinnen und Nutzer finden in den sozialen Medien oft widersprüchliche Informationen zum Ukrainekrieg.
Bild: dpa
Berlin Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski blickt in die Frontkamera und spricht. „Ich habe gerade von einem Raketenangriff auf Vinnytsia erfahren.“ Die Stadt habe nie eine Bedrohung für Russland dargestellt.
„Ein brutaler, zynischer Raketenangriff hat den Flughafen vollständig zerstört. Sie vernichten die Infrastruktur und unser Leben, das von unseren Eltern, Großeltern und weiteren Generationen von Ukrainern erbaut wurde.“
In dem 81-sekündigen Video auf Twitter fordert Selenski eine Flugverbotszone über der Ukraine. Er hat es vor wenigen Tagen geteilt, inklusive englischer Untertitel für das internationale Publikum.
Mehrere Male täglich wendet er sich mit Kurzbotschaften über Twitter an sein Volk und an die Weltöffentlichkeit, immer zweisprachig, häufig mit dem Hashtag „#StopRussia“. Innerhalb kürzester Zeit hat Selenski es so geschafft, sein Publikum bedeutend zu vergrößern – von 300.000 Followern auf mehr als fünf Millionen Follower.
Zum Vergleich: Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit seinen knapp 300.000 Followern auf dem Mikrobloggingdienst eine sehr viel geringere Reichweite als Selenski.
Der gesamte Auftritt und die riesige Reichweite zeigen, wie professionell sich der ukrainische Präsident während des russischen Überfalls in den sozialen Medien inszeniert. Und zumindest auf den digitalen Kanälen kann Selenski auf den Rückhalt des Westens für sein Land zählen: Facebook und Twitter füllen sich mit Solidaritätsbekundungen, Instagram mit Spendenaufrufen für die Ukraine, auf Tiktok gehen Videos über den russischen Angriff viral.
Kaum etwas von diesen Bildern, Videos oder Nachrichten kann jetzt nach Russland dringen: Der Präsident Wladimir Putin hat Twitter und Facebook in seinem Land Anfang März verbieten lassen, Tiktok operiert nur noch eingeschränkt.
Und jetzt beginnt das Regime auch noch damit, das Internet im eigenen Land vom Westen abzuschotten – ähnlich wie es China bereits getan hat. Die drastischen Maßnahmen geben einen Hinweis darauf, wie bedroht sich der Kreml von den sozialen Kanälen fühlt.
Doch welche Rolle spielen die sozialen Medien in Putins Krieg? Wie beeinflussen sie die Wahrnehmung ihrer vielen Nutzer – im Westen, aber auch in Russland?
Anita Gohdes, Professorin für Internationale und Cybersicherheit an der Hertie School in Berlin, erklärt: „Gerade der ukrainische Präsident ist in den sozialen Medien während des Kriegs zu einer Art Heldenfigur aufgestiegen, einem Kämpfer für Freiheit und Demokratie in Europa. Dass er seinen Twitter-Account mit fünf Millionen Followern so professionell und regelmäßig bespielt, zeigt, wie erfahren und bewusst sich die Ukraine mittlerweile im Cyberraum bewegt“, so Gohdes.
Allerdings wisse auch Russland mittels Desinformation die sozialen Medien gezielt für seine Zwecke einzusetzen. „Nutzer von prorussischen Quellen sehen in den sozialen Medien häufig bewusst verbreitete Falschinformationen, die als Vorwand für den russischen Angriff dienen – zum Beispiel, dass faschistische Drogenabhängige die Ukraine regieren würden, oder es einen angeblichen Genozid an der russischen Minderheit in dem Land gebe“, sagt Gohdes. Das könne dazu führen, dass Bilder des Krieges anders bewertet werden, und die Gewalt der russischen Streitkräfte umgedeutet wird.
Wolodimir Selenski
Kein Tag vergeht, ohne dass der ukrainische Präsident mehrmals auf Twitter postet.
Bild: IMAGO/Ukrinform
Die beiderseitige Professionalisierung erklärt die Forscherin so: „Seit acht Jahren ist die Ukraine im Osten mit prorussischen Separatisten im Krieg. Befeuert werden die Kämpfe aus Moskau. Beide Seiten haben in dieser Zeit viel Erfahrung darin gesammelt, Kampagnen in den klassischen und sozialen Medien für ihre eigenen Zwecke voranzutreiben.“
Der Politikwissenschaftlerin zufolge können die sozialen Medien einen „enormen“ Einfluss auf die Bewertung von Kriegen haben. „Allerdings können sie je nach Zielgruppe ganz unterschiedlich wirken.“
So würden Nutzer, die Medien wie dem Tagesspiegel oder der Süddeutschen Zeitung auf Facebook folgen, völlig andere Dinge lesen und sehen als diejenigen, die ausschließlich prorussische Medien und Accounts abonniert haben.
Im Westen sieht und liest die Mehrheit in diesen Tagen in den sozialen und klassischen Medien, wie russische Truppen die Ukraine angreifen und auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung stoßen – und diese Mehrheit verurteilt die Aggression.
Ein Blick ins beliebte russische Netzwerk „VK“ – eine Art staatlich überwachter Facebook-Klon –, zeigt hingegen: Dort ist wenig bis gar nichts über die Invasion zu lesen. Der Tonfall in den Kommentarspalten nationalistischer VK-Gruppen ist aggressiv.
Die staatliche Zensur richtet sich in dem Netzwerk gegen Nutzer, die in ihren Beiträgen von der russischen Regierungspropaganda abweichen. Eine offene Debatte kann in diesen abgeriegelten Räumen nicht stattfinden.
Das Verbot von Facebook und Twitter hat deshalb Folgen, glaubt die Politikwissenschaftlerin Gohdes: „Ohne die beiden Kanäle wird es für die russische Bevölkerung immer schwieriger, an Informationen außerhalb der staatlichen Propaganda zu kommen. Das kann den Widerstand innerhalb des Landes schwächen.“
Soziale Netzwerke
Der russische Propagandasender „RT“ ist mittlerweile nicht mehr auf Facebook und Youtube erreichbar.
Bild: dpa
Beide Plattformen seien für die russische Zivilgesellschaft wichtige Koordinations- und Mobilisierungsräume gewesen – vor allem, um Proteste gegen Putins Regime zu organisieren. Doch hinter der Entscheidung von Russlands Staatspräsident Wladimir Putin steht laut Gohdes noch mehr: „Das Verbot muss auch als Antwort auf die Sperrung von pro-russischen Propagandakanälen wie „RT“ und ähnlichen Medien auf Plattformen in Europa verstanden werden.“ So sind die russischen Staatsmedien „RT“ und „Sputnik“ seit Anfang März weder auf YouTube noch auf Facebook erreichbar.
Dass der Krieg vielen Menschen auf Facebook, Tiktok und Co. so nahe geht, hat Gohdes zufolge auch viel mit der „Personalisierung“ des Kriegsgeschehens zu tun: „Bürger:innen aus Kriegsgebieten können ihr Leid direkt über Videos in den sozialen Medien teilen. Die Betrachter reagieren darauf häufig emotional und solidarisch.“
Neu sei diese Dynamik aber nicht – auch während des Syrien-Krieges und des sogenannten Arabischen Frühlings vor mehr als zehn Jahren habe es diese Art der Kommunikation bereits gegeben.
Drastisch geändert haben sich seitdem allerdings die Zugriffszahlen: Facebook hatte Anfang 2010 noch etwa 430 Millionen aktive Nutzer – mittlerweile sind es etwa 2,9 Milliarden Menschen. Sie alle können potentiell den Angriff Russlands auf die Ukraine in dem Netzwerk verfolgen, Bilder und Videos zum Konflikt sehen. Zudem geht es – anders als beim Arabischen Frühling –, um ein Land, das seit Jahren den Anschluss an den Westen sucht, Teil der Europäischen Union sein will, und eine Grenze mit Polen teilt.
Der Nachrichtenstrom in den sozialen Medien könne allerdings auch trügerisch sein, so Gohdes. „Die Informationsflut über den Ukraine-Krieg erweckt bei vielen Nutzern den Eindruck, als liege eine perfekte Informationslage vor, also als ob wir Bescheid wissen über alles, was in dem Land während des Kriegs vor sich geht. Aber ob und zu welchen Gewaltexzessen es in entlegeneren Gebieten der Ukraine kommt, bleibt unklar.“
Hier könnten die sozialen Medien zumindest eine Lücke füllen, glaubt Florian Zollmann, Kommunikationsforscher an der britischen Newscastle Universität. „Noch vor zwei Jahrzehnten konnte man nicht einfach mit dem Handy ein Foto oder Video im Kriegsgebiet machen und es schnell weiterschicken.“ Zollmann nennt als Beispiel den Irak-Krieg, der 2003 begann.
„Anwohner waren also nicht ohne Weiteres in der Lage, Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen mit ihrem Smartphone zu dokumentieren – und kriegsführende Parteien versuchten die Verbreitung solcher Informationen in den klassischen Medien durch Maßnahmen wie Zugangsbeschränkungen und Pressepools zu unterbinden.“
Jetzt könnten sich beispielsweise Bilder und Videos von Bombardements auf zivile Ziele einfacher verbreiten, zumindest in den sozialen Medien im Westen. Die Macht solcher Bilder könne die Empörung über den Krieg gegen die Ukraine steigern, über Umwege auch in Russland. „Der Informationsfluss in den sozialen Medien lässt sich viel schwerer steuern oder unterbinden als bei klassischen Medien wie im Fernsehen oder im Radio“, stellt der Medienwissenschaftler fest.
Zwei Narrative
Je nachdem, welche Quellen man auf Facebook abonniert hat, kann der Krieg gegen die Ukraine sehr unterschiedlich dargestellt werden.
Bild: dpa
Dass sich in der russischen Bevölkerung Widerstand gegen den Angriff auf die Ukraine regt, zeigt neben Protesten in einzelnen Städten auch die Verbreitung von Antikriegsbotschaften in den sozialen Medien – und das trotz immer größeren Repressionen durch den Kreml.
So hat der britische „Economist“ mehr als 51.000 Beiträge von Twitter und Instagram ausgewertet, die Nutzer mit dem russischen Hashtag #нетвойне – sinngemäß „#NeinZumKrieg“ –, am 26. und 27. Februar hochgeladen haben. Zu Kriegsbeginn war Twitter noch nicht verboten in Russland.
Knapp 3500 dieser Beiträge wurden von russischem Boden aus gepostet: aus Russlands 50 größten Städten, über alle elf Zeitzonen des Landes hinweg und in 83 von 85 Verwaltungseinheiten.
Zu den Nutzern gehörte demnach auch die Tochter von Putins eigenem Pressesprecher Dmitry Peskov, sowie ein ranghoher Schachspieler oder zum Beispiel auch Ivan Urgant, der Moderator einer beliebten Talkshow im halbstaatlichen Fernsehsender „Perwy kanal“.
Doch der Kreml ist entschlossen, die Kontrolle über die digitale Welt im eigenen Land an sich zu reißen: Wie inzwischen bekannt wurde, sollen in Russland operierende Webseitenbetreiber ihre Dienste schnell auf russische Server umziehen und Domain-Namen mit ausländischer Kennung eine Endung mit .ru erhalten.
Ein solcher Umzug würde den russischen Behörden eine staatliche Zensur oder eine vollständige Blockade von Informationen ermöglichen. Es ist ein weiterer Schlag gegen die verbleibenden Freiheiten im digitalen Raum, und dürfte die Chancen auf ein realitätsnahes Bild des Krieges in Russland verschlechtern.
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