Russland wehrt sich gegen die ukrainische Gegenoffensive im Süden und wird dadurch im Osten verwundbar. Experten sehen einen möglichen Wendepunkt des Krieges nahen.
Ukrainische Soldaten (am 3. September in der Region Donezk)
Das US-Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW) schließt aus der Präsenz der ukrainischen Soldaten auf einen Erfolg der Gegenoffensive rund um die umkämpfte Stadt Slowjansk.
Bild: AP
Berlin Mehrere ukrainische Soldaten laufen eine asphaltierte Straße entlang, schwer bewaffnet sowie bepackt mit Rucksack und Schlafmatte auf dem Rücken. Die Häuser entlang der Straße sind teilweise zerstört, auf dem Asphalt liegen Äste und Schutt. Die Straßen auf dem geolokalisierten Video sollen die von Staryj Karawan zeigen, einem Ort etwa zehn Kilometer nordöstlich von Slowjansk im Donbass. Eine Stadt, die bis vor wenigen Tagen noch von Russland besetzt war.
Das US-Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW) schließt aus der Präsenz der ukrainischen Soldaten und dem Umstand, dass sie anscheinend unbehelligt durch die Straßen laufen können, auf einen Erfolg der Gegenoffensive rund um die umkämpfte Stadt Slowjansk. Sie war ein Hauptziel der russischen Offensive im Donbass, nachdem die Region Luhansk Anfang Juli fast vollständig an Russland gefallen war.
Allerdings halten die defensiven ukrainischen Stellungen seit zwei Monaten Stand. Mehr noch: Die Ukraine scheint vom Ort Staryj Karawan aus weiter entlang der Schnellstraße T0514 von Slowjansk stadtauswärts vorzustoßen.
Am gleichen Tag wurden auch ukrainische Truppen auf halber Strecke zwischen Slowjansk und Isjum nahe der Ortschaft Dolyna gesichtet – der Ort liegt nur 30 Kilometer südlich von Isjum, von wo aus Russland den Nachschub in den Donbass organisiert.
Dass dies überhaupt möglich ist, hat mit der anderen Gegenoffensive, im Süden des Landes in der Region Cherson, zu tun. Durch die Offensive dort sind Lücken entstanden, die die Ukrainer nun ausnutzen können. Denn Russland hatte schon vor Wochen massiv Soldaten vom Osten in den Süden verlegt. Vor diesem Hintergrund hatte Präsident Wolodimir Selenski vor einigen Tagen angekündigt, dass die Truppen an mehreren Frontabschnitten angreifen würden.
Das ist deshalb bemerkenswert, weil seit April fast ausschließlich die Russen in der Ostukraine auf dem Vormarsch waren. Die Ausnahme bildeten die Geländegewinne für die Ukrainer rund um Charkiw, um die Stadt besser vor russischem Artilleriebeschuss zu schützen. Von der Stadt Charkiw selbst sind die russischen Stellungen nun rund 25 Kilometer entfernt.
Ukrainische Soldaten in Donezk
Russland hatte schon vor Wochen massiv Soldaten vom Osten in den Süden verlegt, die Ukraine nutzt das für ihre Gegenoffensive.
Bild: Stringer/Reuters
Der Beschuss in Charkiw geht zwar weiter und verstärkte sich in den vergangenen Tagen. Doch scheinen die Ukrainer auch in dieser Region Erfolge verbuchen zu können.
Laut Videos und Berichten in den sozialen Medien, auch von russischer Seite, haben Kiews Truppen die Kleinstadt Balaklija im Südosten Charkiws Richtung Isjum in Teilen erobert. Auf geolokalisierten Bildern ist dem ISW zufolge zu sehen, wie ukrainische Soldaten die Körper von toten russischen Soldaten im Ort Verbiwka nahe Balaklija begutachten.
Nico Lange, ehemaliger Leiter des Leistungsstabes im Bundesverteidigungsministeriums, schätzt die Lage ähnlich wie das ISW ein und sieht neben der ukrainischen Gegenoffensive im Süden des Landes auch eine im Norden des Donbass bei Isjum und Slowjansk.
Die Lage rund um Charkiw sieht er hingegen aufgrund des massiven russischen Beschusses kritischer für die Ukrainer. Und auch bei Bachmut sowie Sewersk im südlichen Donbass komme Russland wieder besser voran.
Zerstörte Straßenzüge in der Region Charkiw
Die Lage rund um Charkiw ist kritisch aufgrund des massiven russischen Beschusses.
Bild: Reuters
Lange berichtet via Twitter, dass Russland mit dem Beschuss Charkiws und der Ortschaften in der Region das Ziel verfolge, ukrainische Einheiten dort zu binden. Diese können demnach nicht im Donbass unterstützen, sollte der Druck dort verstärkt werden.
Daraus lässt sich schließen, dass sich Russland des Dilemmas durchaus bewusst ist. Schließlich ist es nicht möglich, die Front im Süden wie auch im Osten gleichermaßen zu verstärken.
„Russland ist erkennbar bemüht, erstmals seit Mitte August wieder Geländegewinne zu erringen“, schreibt Lange. Er geht davon aus, dass Russland nun das Dritte Armeekorps im Donbass einsetzt, um sich nicht nur zu verteidigen, sondern auch Fortschritte zu machen. Dass das Korps bis jetzt zurückgehalten wurde und über modernere Waffen verfügt, spricht laut ISW dafür, dass es der russischen Armee zu einem Durchbruch an der Front verhelfen soll.
Die russische Militärstärke beruht auf der Übermacht an schweren Waffen, nicht an Soldaten. Deutscher Militärexperte, Gustav Gressel
Doch zweifelt das ISW am Durchsetzungsvermögen des Dritten russischen Armeekorps: Die Soldaten müssen dem Bericht zufolge keine militärische Erfahrung mitbringen. Zudem sollen sie auf Fotos mitunter körperlich unfit und alt wirken. „Eine bessere Ausrüstung macht noch keine bessere Truppe“, schreibt das ISW. Erst recht nicht, wenn die Soldaten „schlecht ausgebildet und undiszipliniert“ seien.
Auch Militärexperte Gustav Gressel zweifelt an der Kampfkraft der russischen Truppen. Er bezieht sich mit seiner Einschätzung auf vom ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlichte russische Verlustdaten. Demnach sind bereits mehr als 50.000 russische Soldaten kampfunfähig, das heißt verwundet oder getötet worden. Fast 2100 Panzer, 1200 Artilleriegeschütze, 300 Mehrfachraketenwerfer, mehr als 4500 gepanzerte Kampffahrzeuge und an die 900 Drohnen sollen der Aufschlüsselung zufolge schon zerstört worden sein.
Selbst wenn man etwaige Mehrfachzählungen berücksichtige, sei die Zerstörung von Militärmaterial deutlich eindrucksvoller als die damit erzielten russischen Geländegewinne, schreibt Gressel via Twitter. „Die russische Militärstärke beruht auf der Übermacht an schweren Waffen, nicht an Soldaten“, so Gressel weiter. „Sollte die Ukraine diesen Vorteil mit den Gegenoffensiven nutzen können, bereiten sie damit die Basis vor, um das Blatt im Herbst zu wenden.“
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×