Die Invasion in der Ukraine hätte Russland weltweit weitgehend isoliert – wäre da nicht die Türkei. Ankara will sogar eine eigene Airline gründen, um Sanktionen zu umgehen.
Bazar in Istanbul
Seit Ausbruch des Krieges reisen immer mehr Russen in die Türkei – die einen für einen Urlaub, andere bleiben langfristig.
Bild: Imago/Westend61
Istanbul Olga Kuznetsowa gehört auch zu ihnen. Die junge Russin ist Putin-Gegnerin, eigentlich wollte sie nach Portugal fliehen. Das allerdings habe sich schwierig gestaltet, erzählt sie, gerade zurzeit, wo der Ukrainekrieg tobt, sei es als Russin kompliziert gewesen, Kontakt in EU-Länder aufzubauen. „Die Türkei ist daher eine gute Option für diejenigen, die es nicht schaffen, in die EU zu kommen“, erzählt die 27-Jährige.
Zum Schutz ihrer Identität bleibt Kuznetsowas wahrer Name ungenannt. Anfang März hat sie sich ins Flugzeug nach Istanbul gesetzt, das sei voll besetzt gewesen. Sie habe vor allem junge Leute gesehen, die im IT-Sektor arbeiteten. „Ich bin selbst in diesem Bereich tätig und habe viele wiedererkannt“, erklärt sie.
Inzwischen lebt Kuznetsowa in einem Ort an der türkischen Ägäisküste und betreibt von dort einen Blog für russische Expats.
Olga Kuznetsowa ist nur eine von vielen. Ihr Heimatland gilt seit der Invasion in der Ukraine in vielen Teilen der Welt als isoliert. Ein Staat jedoch bemüht sich um die russische Klientel: die Türkei. Immer mehr Dissidenten, aber auch Touristen und russische Superreiche finden ihren Weg in das benachbarte Nato-Land. Entweder fliehen sie vor Putin und seiner Politik. Oder sie suchen Wege, die Sanktionen des Westens zu umgehen. Für die Türkei ist das ein diplomatischer Balanceakt, aber einer, der sich lohnt: In Zeiten von Rekord-Inflation spülen die Russen viel Geld in die Kassen.
Eine Telegram-Gruppe namens „Russians in Turkey“ sei seit dem Beginn des Ukrainekriegs von 500 auf über 10.000 Teilnehmer angewachsen, berichten Mitglieder der Gruppe dem Handelsblatt. Selbst wer vorhat, langfristig in der EU Unterschlupf zu finden, kommt aus praktischen Gründen vorher in die Türkei. „Einerseits benötigt man für die Türkei kein Visum“, erklärt die 27-Jährige, „und außerdem stellen die Beamten am Flughafen keine großen Fragen, wenn man als Touristin in die Türkei reist“.
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Im asiatischen Teil der Metropole Istanbul, im liberalen Stadtbezirk Kadiköy, haben sich viele russische Familien niedergelassen, berichten Immobilienmakler. In den vergangenen Jahren sind dort, unweit des Stadions von Fenerbahce Istanbul, viele moderne Wohnsiedlungen entstanden. Was die Attraktivität von Kadiköy erhöht: Dort gibt es einen Jachthafen. Die hohe Inflation in der Türkei sorgte dafür, dass viele Türkinnen und Türken sich Wohnungen in dieser Ecke der Stadt nicht mehr leisten konnten. Jetzt kaufen gut situierte Migranten aus Russland die Wohnungen.
Russen in am Flughafen in Sochi
Viele Russen suchen in Türkei Zuflucht seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Bild: IMAGO/ITAR-TASS
Die Nachfrage ist so groß, dass für 100 Quadratmeter inzwischen mehrere Hunderttausend Euro fällig werden, wie aus Daten des Immobilienportals Sahibinden.com hervorgeht. „Auf den Straßen hört man immer häufiger Russisch“, erzählt ein Straßenverkäufer.
Allein im Februar dieses Jahres, bis zum Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar, kauften russische Staatsbürger in der Türkei mehr als 500 Häuser und Eigentumswohnungen – ein Anstieg um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.
Allerdings sind es nicht nur Russen, die in Istanbul und an der türkischen Küste Wohnungen kaufen, sondern offiziellen Daten zufolge auch immer mehr ukrainische Staatsbürger. Laut türkischem Innenminister Süleiman Soylu sind seit Ausbruch des Kriegs nicht nur 20.000 Russen in die Türkei geflohen, sondern auch mehr als 60.000 Ukrainer.
Laut dem CEO des Immobilienportals Emlakjet, Tolga Idikat, hätten die Suchanfragen aus beiden Ländern zuletzt stark zugenommen. Interessanterweise würden Käufer aus beiden Ländern in ähnlichen Gegenden nach Eigentum suchen: in den liberaleren Stadtteilen Istanbuls, aber auch in den Mittelmeermetropolen Izmir und Antalya. Dort hätten sich die Mieten seit der russischen Invasion in beliebten Stadtteilen inzwischen verdreifacht.
„Die Zahl der Häuser kann die Nachfrage, die von Tag zu Tag steigt, nicht decken. Der Währungsvorteil, den ausländische Investoren haben, treibt die Preise ebenfalls in die Höhe“, sagte Emlakjet-CEO Idikat dem arabischen Nachrichtenportal Arabnews. Amtlichen Angaben zufolge leben in Antalya derzeit 30.000 Russen und 9.000 Ukrainer.
Die Türkei ist das einzige Nato-Mitglied, das seit Beginn des Kriegs keine Sanktionen gegen Russland eingeleitet hat. Für Präsident Recep Tayyip Erdogan eine heikle Angelegenheit. Denn gleichzeitig liefern türkische Rüstungsfirmen Kampfdrohnen in die Ukraine. Erdogan vermittelt zudem in dem Konflikt, hat bereits die Außenminister der Ukraine und Russlands an einen Tisch gebracht. Den Bosporus hat die türkische Regierung für russische und andere Kriegsschiffe inzwischen gesperrt – doch Zivilisten jeglicher Couleur sind in dem Land weiterhin willkommen.
Einer der Hauptgründe für die Nähe zu Russland: Die türkische Wirtschaft ist stark abhängig von Moskau. Nicht nur importiert das Land große Teile des Öl- und Weizenbedarfs vom großen Nachbarn im Norden. Auch kamen im vergangenen Jahr mehr als 4,7 Millionen russische Touristen in die Türkei. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu brachte die Situation seines Landes mit folgendem Satz auf den Punkt: „Sanktionen muss man sich leisten können.“
Deshalb sollen auch in diesem Jahr russische Touristen Urlaub in der Türkei machen. Die Vereinigung türkischer Reiseveranstalter (Türsab) hat Anfang des Jahres die Zahl sieben Millionen als Erwartung für 2022 genannt. Der Krieg in der Ukraine soll diesem Ziel nicht entgegenstehen.
Mehrere russische Reiseveranstalter konnten auch deshalb in den vergangenen Wochen Abkommen mit Turkish Airlines sowie der Billig-Fluglinie Pegasus über insgesamt zwei Millionen Sitzplätze für die Sommersaison schließen. Den Vereinbarungen zufolge sollen die Preise für eine Woche im All-Inclusive-Hotel an der Türkischen Riviera für zwei Personen inzwischen jedoch extrem teuer geworden sein: Umgerechnet würden bereits im Mai für ein Drei-Sterne-Hotel mit Komplettverpflegung im Doppelzimmer rund 1400 US-Dollar fällig. Wer in ein Fünf-Sterne-Hotel in den Luxus-Ort Belek möchte, muss für das Doppelzimmer pro Woche rund 3400 Dollar bezahlen. Das sind Tourismusexperten zufolge bis zu 50 Prozent mehr als in den Vorjahren.
Trotzdem rechnen Regierung und Veranstalter mit einer großen Nachfrage aus Russland – vermutlich auch, weil die Türkei eines der wenigen Reiseländer sein wird, in das Russinnen und Russen überhaupt noch reisen können. Die Regierung in Ankara will dazu sogar eine neue Airline für Reisende aus Russland gründen. Selbst ein Name steht schon fest: Southwind Airlines.
Die Fluggesellschaft wird damit auch namentlich das Gegenstück zur russischen Fluglinie Nordwind sein. Die ist in Moskau beheimatet, erhält aber aufgrund der westlichen Sanktionen für ihre Maschinen der Firmen Airbus und Boeing keine Ersatzteile mehr. Außerdem verlangen Leasingfirmen, die Flugzeuge an Nordwind vermietet haben, diese nun zurück.
Geplant ist, fünf Jets für die neue Airline einzusetzen, darunter drei Großraum- und zwei schmale Maschinen. Damit ließen sich die Kapazitäten um eine Million Flugplätze erweitern.
Doch nicht nur um normale Türkeiurlauber aus Russland kümmert sich die Regierung in Ankara. Mehrere Jachten russischer Milliardäre liegen derzeit in türkischen Häfen vor Anker. Der russische Oligarch Roman Abramowitsch hat etwa eines seiner Luxusschiffe im türkischen Hafen von Bodrum untergebracht. Sein zweites Schiff, die „Solaris“, befindet sich inzwischen im benachbarten türkischen Yalikavak.
Mutmaßliche Abramovich-Jacht „Eclipse“
Russische Oligarchen haben viele ihrer Luxus-Yachten in türkische Häfen gerettet.
Bild: dpa
Oleg Deripaska, Gründer des russischen Aluminium-Giganten Rusal, hat seine 73-Meter-Jacht „Clio“ im südtürkischen Göcek untergebracht. Zuvor hatten Behörden europäischer Mittelmeerländer Jachten russischer Oligarchen beschlagnahmt. Am 4. April konfiszierten zudem US-Behörden in Spanien eine russische Jacht. In der Türkei droht ein solches Risiko nicht.
Dass für sie alle die Türkei ein gutes Ziel ist, liegt auch an einer Kooperation im Finanzsektor. Drei türkische Banken haben seit 2019 Kooperationsabkommen mit dem russischen Mir-Zahlungssystem abgeschlossen, das dem von Visa oder Mastercard ähnelt. Die beiden westlichen Kreditkartenanbieter hatten zu Beginn des Kriegs ihre Kooperation mit russischen Banken beendet.
Wer eine russische Bankkarte mit dem Mir-Symbol besitzt, kann bei den staatlichen türkischen Banken Vakif und Ziraat sowie bei der privaten Is Bankasi dennoch weiterhin Bargeld in türkischer Lira abheben und so Rechnungen bezahlen – für die angemietete Wohnung, für das Hotel oder den Hafenplatz. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan brachte zuletzt sogar eine Kooperation im Währungssektor ins Spiel. Einnahmen aus dem Tourismussektor und anderen Industriebereichen könnten demnächst in Rubel und Lira abgerechnet werden statt in US-Dollar.
Die Türkei ist durch ihren diplomatischen Balanceakt für viele Schichten der russischen Gesellschaft zum Zufluchtsort geworden. Doch dieser Drahtseilakt droht inzwischen nicht nur außen-, sondern auch innenpolitisch zu einem Problem zu werden. Der Krieg in der Ukraine könnte Spannungen auf heimischem Boden auslösen. Denn die Türkei profitiert nicht nur von russischen Gästen – sondern auch von ukrainischen. Die drittgrößte Urlaubergruppe kam im vergangenen Jahr aus der Ukraine, mit mehr als zwei Millionen Touristen. Viele sind in denselben Badeorten wie die russischen Urlauber untergebracht gewesen.
Ein Grund für den ukrainischen Botschafter in Ankara, sich in einer Diskussionsrunde mit Botschafterkollegen aus der EU kritisch zu Erdogans Kurs zu äußern. Sein Land verstehe zwar die Realität der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau, so der Diplomat. „Aber wir sind nicht ganz glücklich damit.“
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