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16.11.2022

10:13

Ukraine-Krieg

Explosion in Polen: Biden hält Abschuss der Rakete aus Russland für „unwahrscheinlich“

Von: Martin Greive, Sabine Gusbeth, Annett Meiritz

Der Raketeneinschlag in Polen mit zwei Todesopfern hat das G20-Treffen aufgeschreckt. Die wichtigste Frage: War es eine Rakete aus Russland? Vieles spricht inzwischen dagegen.

Der US-Präsident telefoniert während der nächtlichen Beratungen der G7 mit Polens Präsident Duda. AP

Joe Biden

Der US-Präsident telefoniert während der nächtlichen Beratungen der G7 mit Polens Präsident Duda.

Bali, Washington Nach einem langen Tag schläft Olaf Scholz erst wenige Stunden, als er drei Uhr nachts von seinem außenpolitischen Berater Jens Plötner geweckt wird. In einem polnischen Dorf nahe der ukrainischen Grenze sei eine Rakete eingeschlagen, zwei Menschen seien gestorben, teilt Plötner dem Kanzler telefonisch mit.

Sofort stellen sich Fragen: Hat sich Russland für die G20-Erklärung vom Vortag, in der die meisten Staaten den Krieg mit der Ukraine verurteilen, gerächt? Droht mit Polen ein Nato-Mitglied in den Ukrainekrieg hineingezogen zu werden? Die Nato-Staaten schalten in den Krisenmodus, die Krisendiplomatie läuft an.

Um kurz vor 7 Uhr telefoniert Scholz mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda, ebenso wie Nato-Generealsekretär Jens Stoltenberg und US-Präsident Joe Biden am Morgen. Die westlichen G7-Staaten und die Nato beraumen kurz darauf in einem Ballsaal im Hotel von Biden ein Notfalltreffen an.

Der US-Präsident teilt am frühen Morgen laut den Nachrichtenagenturen dpa und AP mit: Es gebe Hinweise darauf, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine handelt. Er soll von einer Rakete des Systems S-300 gesprochen haben.

In einem Pressestatement hatte Biden es zuvor bereits als „unwahrscheinlich“ bezeichnet, dass die eingeschlagene Rakete von Russland aus abgefeuert wurde. „Es gibt vorläufige Informationen, die dagegensprechen“, sagte Biden und verwies auf den Flugverlauf des Geschosses. Schon zu diesem Zeitpunkt sprach er davon, es könne auch eine ukrainische Abfangrakete gewesen sein.

Scholz sagte, der Einschlag der Rakete mit zwei Todesopfern sei ein „schrecklicher Vorfall. Wir müssen jetzt das tun, was notwendig ist, nämlich aufklären“. Zur Herkunft der Rakete sagte Scholz nichts. „Eine voreilige Festlegung verbietet sich bei einer solch ernsten Angelegenheit“, so der Kanzler.

Die Staats- und Regierungschefs treffen sich zu einer Krisensitzung. dpa

G20-Gipfel

Die Staats- und Regierungschefs treffen sich zu einer Krisensitzung.

Auch Polen Präsident Duda hatte sich vorsichtig geäußert. Zwar sei die Rakete russischer Bauart, doch solche Raketen würden auch von der Ukraine verwendet. „Wir haben derzeit keine eindeutigen Beweise dafür, wer die Rakete abgefeuert hat. Die Ermittlungen laufen.“ Polen versetzte dennoch einen Teil seiner Streitkräfte in eine höhere Bereitschaft.

Ein Sprecher der polnischen Regierung erklärte, man habe mit den Nato-Verbündeten beschlossen zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten. Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor. Die Nato hält nun am Vormittag in Brüssel eine Dringlichkeitssitzung ab.

Die Ukraine forderte nach dem Raketeneinschlag eine geeinte Reaktion gegen Russland. Ein Nato-Gipfel unter Teilnahme der Ukraine sollte weitere Schritte ausarbeiten, schlug der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba vor und forderte eine bessere Flugabwehr und neue US-Kampfjets für Kiew. Ein aktuelles Statement der Ukraine zur Nachrichtenlage am Morgen gibt es bisher nicht.

Zweitschwerste Luftangriffe seit Kriegsbeginn

Die Freude über die Erfolge auf dem ersten Gipfeltag auf Bali währte durch den Raketeneinschlag nur wenige Stunden. Die Gruppe der 20 führenden Wirtschaftsnationen hatte sich am Dienstag überraschend geschlossen auf eine gemeinsame Erklärung verständigt, in der „die meisten“ Staaten den Krieg in der Ukraine „verurteilen“ und in der die G20 die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, ablehnen.

Mit so viel Einigkeit war im Vorfeld des Treffens nicht gerechnet worden. Scholz bezeichnete den Gipfel zum Abschluss daher als „großen Erfolg“. Das Treffen habe gezeigt: „Putin steht in der Welt fast alleine da.“ Der Kanzler hob dabei insbesondere die Rolle von Indien und Südafrika auf dem Gipfel hervor. Beide Länder hatten den Krieg Putins in der UN-Vollversammlung nicht verurteilt.

China hingegen zeigte sich zurückhaltender. Staatsmedien vermeldeten zwar, dass sich die Staatschefs der G20-Staaten in Bali auf eine Abschlusserklärung geeinigt haben. Allerdings wurden zunächst keinerlei Informationen über den Inhalt der Erklärung veröffentlicht.

Auch in der offiziellen Stellungnahme des chinesischen Außenministeriums hieß es lediglich, dass eine Abschlusserklärung verabschiedet wurde ohne weitere Details zu nennen. Die darin enthaltene scharfe Verurteilung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine passt nicht zur offiziellen Position Chinas gegenüber Russland. Noch am Freitag hatte ein Sprecher des Außenministeriums betont, die Beziehung mit Russland sei „felsenfest“.

Der Bundeskanzler am Morgen nach einer kurzen Nacht. AP

Olaf Scholz

Der Bundeskanzler am Morgen nach einer kurzen Nacht.

Russlands Staatschef Wladimir Putin hatte bereits direkt am Dienstag auf seine Weise auf die Demütigung reagiert. Er überzog die Ukraine mit den schwersten Luftangriffen seit Kriegsbeginn am 24. Februar. Ein Sprecher der ukrainischen Luftwaffe sprach von etwa 100 Raketen, die Russland abgefeuert habe. Ziel der Geschosse war unter anderem Kiew.

Scholz verurteilte die Angriffe auf die Ukraine am Mittwoch. „Wir stellen fest, dass Elektrizitätswerke zerstört werden, dass Umspannleitungen getroffen werden, dass Wasserversorgung zerstört wird. Diese Form der Kriegsführung in diesem ohnehin ungerechtfertigten Krieg ist inakzeptabel“, betonte der Bundeskanzler.

Noch deutlicher äußerten sich die G7 und die Nato in einer gemeinsamen Erklärung: „Wir verurteilen die barbarischen Raketenangriffe, die Russland am Dienstag auf ukrainische Städte und zivile Infrastruktur verübt hat.“ Die G7 und die Nato boten zudem Polen ihre volle Unterstützung bei den laufenden Ermittlungen zu dem Raketeneinschlag an.

Grenze zur Ukraine

Rakete in Polen eingeschlagen – Bisher „keine schlüssigen Beweise“

Grenze zur Ukraine: Rakete in Polen eingeschlagen – Bisher „keine schlüssigen Beweise“

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In der sicherheitspolitischen Großkrise übernahmen die USA schnell die Führung. Biden lud G7 und Nato um kurz vor 9 Uhr ins Grand Hyatt ein, in dem der US-Präsident auf Bali residiert. Wenige Stunden nach dem Raketeneinschlag in Polen veröffentlichte das Weiße Haus ein Foto, auf dem Biden zu sehen ist, wie er mit Polens Präsident Duda telefoniert. Es ist sehr früher Morgen, der Präsident trägt ein Poloshirt.

Das Gegenteil von Trump – doch der kandidiert wieder

An dem Treffen nahmen neben den Staatschefs der G7 auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel teil. Nur der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan blieb dem Treffen fern. Er war sich schnell sicher, dass Russland nichts mit dem Raketeneinschlag zu tun habe.

Die schnelle Reaktion der USA und der Schulterschluss mit internationalen Verbündeten sind ein Kontrast zur früheren Regierung von Donald Trump. „Wir werden uns voll und ganz in der Welt engagieren“, betonte Biden auf Bali. Wer an der Verlässlichkeit der USA zweifele, so seine Botschaft, brauche dies zumindest im Moment nicht zu tun.

Doch zeitgleich zum Krisentreffen der G7 meldete sich Trump zurück. Der Ex-Präsident verkündete in seinem Golfresort in Mar-a-Lago, ins Rennen um das Weiße Haus für das Jahr 2024 einsteigen zu wollen. Bidens Vorgänger war dafür berüchtigt, globale Gipfel vorzeitig zu verlassen. Er drohte auch damit, die Nato-Mitgliedschaft aufzukündigen.

Auf Bali wurde Biden gefragt, ob er etwas zu Trumps Kandidatur sagen wolle, er stand gerade an der Seite von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Beide tauschten einen kurzen Blick aus. „Nicht wirklich“, erwiderte Biden und ging.

Die G20 sind zur Tagesordnung übergegangen. via REUTERS

Mangroven pflanzen auf Bali

Die G20 sind zur Tagesordnung übergegangen.

Nach der Aufregung über den Vorfall der Nacht gingen die G20-Mitglieder wieder zum regulären Programm über. Am Morgen pflanzten die Staatschefs am Rande des Gipfels Bäume in einem Mangrovenwald. Dabei posierten sie mit Schaufeln in den Händen für die Kameras. Am Vortag hatte die G20 auf das traditionelle Familienfoto verzichtet.

Da schon nicht mehr dabei war Russlands Außenminister Sergei Lawrow, der Putin auf dem Treffen vertreten hatte. Lawrow hatte das G20-Treffen bereits am Dienstagabend während des Abendessens vorzeitig verlassen.

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