PremiumNach der Detonation an der ukrainischen Grenze läuft die Ursachen-Forschung. Polens Militär ist in Bereitschaft. Die Nato trifft sich an diesem Mittwoch zu einer Krisensitzung.
Mutmaßlicher Explosionsort im Osten Polens
Laut polnischen Medienberichten ereignete sich die Explosion bereits um 15.38 Uhr.
Warschau Nach dem mutmaßlichen Raketen-Einschlag auf polnischem Territorium mit zwei Toten mehren sich Hinweise auf die Herkunft des Geschosses. US-Präsident Joe Biden sagte am frühen Mittwochmorgen am Rande des G20-Gipfels auf Bali, es sei „unwahrscheinlich“, dass die Rakete von russischem Territorium abgefeuert worden sei.
Nach Informationen der Nachrichtenagenturen dpa und AP erklärte Biden im Gespräch mit anderen Staats- und Regierungschefs, es handle sich um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine. Der US-Präsident habe demnach von einem Projektil des Systems S-300 gesprochen, was aus russischer Produktion stammt und von der Ukraine verwendet wird.
Von offiziellen polnischen Stellen hatte es in der Nacht zum Mittwoch Äußerungen gegeben, wonach es sich um einen Flugkörper aus russischer Produktion handele, der aber nicht zwingend von Russland abgefeuert worden sein soll. Polens Präsident Andrzej Duda sagte: „Wir haben im Moment keine schlüssigen Beweise dafür, wer diese Rakete abgefeuert hat. (...) Es war höchstwahrscheinlich eine Rakete aus russischer Produktion, aber das wird im Moment alles noch untersucht.“
„Wir werden herausfinden, was genau passiert ist“, erklärte Biden, der in der Nacht mit Duda telefonierte. Er versprach, dass die USA eng an der Seite Polens stünden. Biden warf Russland vor, im Krieg mit der Ukraine immer weiter zu eskalieren, während die internationale Gemeinschaft beim G20-Gipfel Wege zum Frieden auslote.
Der US-Präsident hatte sich zuvor mit den Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Deutschland, Spanien, Kanada, dem Vereinigten Königreich, Italien, Japan, den Niederlanden und der EU getroffen. Das Notfalltreffen war kurzfristig am frühen Morgen in Bali anberaumt worden.
Am Dienstag hatte der polnische Hörfunk-Sender ZET zwei verirrte Raketen seien in Przewodow nahe der Grenze zur Ukraine gemeldet. US-Medien berichteten unter Berufung auf US-Geheimdienstkreise, bei dem Einschlag seien zwei Menschen getötet worden. Dass sich die Hintergründe nun deutlicher abzeichnen, dürfte sich auch auf die für Mittwoch angekündigten Konsultationen der Nato auswirken.
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Polen ist Mitglied der EU und des westlichen Verteidigungsbündnisses. Bereits am Dienstagabend erklärte ein Sprecher der polnischen Regierung, dass Polen prüfe, ob das Land Konsultationen gemäß Artikel 4 des Nato-Vertrags beantragen müsse. Der Artikel besagt, dass die Parteien einander konsultieren werden, „wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist“.
Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Allianz, sprach am Dienstagabend bereits mit Andrzej Duda. „Ich habe mein Beileid für den Verlust von Menschenleben ausgesprochen“, schrieb Stoltenberg auf Twitter. „Die Nato beobachtet die Situation und die Verbündeten beraten sich eng. Es ist wichtig, dass alle Fakten gesammelt werden.“ Auch US-Präsident Biden telefonierte am Abend mit Stoltenberg.
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki berief eine Sitzung des nationalen Sicherheitsrates ein, wie sein Sprecher auf Twitter mitteilte. Regierungssprecher Piotr Müller warnte allerdings davor, ungeprüfte Informationen zu verbreiten.
Polnischen Medienberichten zufolge ereignete sich die Explosion im Bezirk Hrubieszowski, im äußersten Osten des Landes, schon um 15:38 Uhr. Die nächste polnische Großstadt Lublin ist etwa 120 Kilometer entfernt. Die Gründe sind unbekannt, sagte der Pressesprecher der örtlichen Bezirksfeuerwehr dem Online-Portal onet.pl.
Ein über Twitter verbreitetes Video soll den Ort der Explosion zeigen:
Das Verteidigungsministerium in Moskau bezeichnete die Angaben über einen Einschlag russischer Raketen auf polnischem Staatsgebiet als bewusste Provokationen. Diese hätten das Ziel, die Situation zu eskalieren, zitiert die Nachrichtenagentur Interfax das Ministerium. Es seien keine Angriffe mit russischen Waffen auf Ziele nahe der polnisch-ukrainischen Grenze ausgeführt worden.
Russland hatte am Dienstag Dutzende Ziele in der Ukraine mit Raketen angegriffen. Die ukrainische Luftwaffe berichtete von 100 Geschossen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski legte sich fest: Es seien russische Raketen gewesen, die Polen getroffen hätten, erklärt er. Der russische Angriff auf Nato-Gebiet bedeute eine gravierende Eskalation der Lage. Darauf müsse es eine Reaktion geben.
Westliche Militärexperten hatten schon vor den neuen Erkenntnissen erklärt, dass Russland Polen nicht vorsätzlich mit Raketen beschossen habe. Denkbar sei eine fehlerhafter Steuerung der Raketen oder diese seien schlicht mangelhaft konstruiert worden, sagte ein früher General, der mit russischer Waffentechnologie vertraut ist. Im Falle eines bewussten Angriffs würde Russland die roten Linien der Nato austesten.
Im Falle eines unabsichtlichen Beschusses würde die Nato dagegen wohl kaum einen solchen Bündnisfall auslösen. Eine Eskalation dürfte weder im Interesse Russlands noch des Westens sein. Bisher haben sich beide Seiten bemüht, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. So liefert die Nato-Länder keine Kampfpanzer an die Ukraine und die Russen haben es bisher vermieden, westliche Waffenlieferungen an die Ukraine direkt anzugreifen.
Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock schrieb auf Twitter: „Meine Gedanken sind bei Polen, unserem engen Verbündeten und Nachbarn.“ Man beobachte die Situation genau und stehe „in Kontakt mit unseren polnischen Freunden und Nato-Verbündeten“.
Politiker aus den nahen baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zeigten sich ebenfalls auf Twitter besorgt. So nannte Estlands Außenministerium die Nachrichten aus Polen „höchst besorgniserregend“. „Wir beraten uns eng mit Polen und anderen Verbündeten. Estland ist bereit, jeden Zentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen. Wir sind voll solidarisch mit unserem engen Verbündeten Polen.“
Mit Agenturmaterial
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