25 Millionen Tonnen Getreide hängen in der Ukraine fest. Bisher sind alle Versuche gescheitert, den Export zu ermöglichen. Ein neuer Plan könnte nun den Durchbruch bringen.
Berlin, Düsseldorf, Genf, Istanbul Vor den Augen der Welt verbrennt derzeit das ukrainische Getreide: Am Mittwoch bombardierten russische Truppen den Hafen in Mykolayiv und trafen das Getreidedepot der Firma Viterra. Am Freitag zerstörten ihre Bomben ukrainischen Angaben zufolge ein Lagerhaus für Nahrungsmittel in der Hafenstadt Odessa.
Rund 25 Millionen Tonnen Getreide liegen in den Häfen fest. Russland blockiert den Seeweg, die Ukraine hat die Hafeneinfahrten aus Angst vor einem russischen Angriff zu Wasser vermint. In der kommenden Woche könnte ein Treffen unter Einbindung der Vereinten Nationen eine Lösung für ihren Export bringen.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte in dieser Woche, er sei sich sicher, dass die Vereinten Nationen „am Ende eine Einigung erzielen werden“. Und er könne sich nicht vorstellen, dass dies noch viel länger dauern werde. Die Türkei will kommende Woche in Istanbul ein Treffen unter Beteiligung der Vereinten Nationen (UN), Russlands und der Ukraine zur Lösung der Getreidekrise abhalten.
Aufseiten der UN spielt die Generalsekretärin der Konferenz für Handel und Entwicklung, Rebeca Grynspan, eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen. Ein Deal wäre essenziell für „Hunderte Millionen Menschen in Entwicklungsländern“, sagt sie. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu lobte den UN-Plan zur Lösung der Getreidekrise als „realistisch und machbar“.
Spekuliert wird, dass UN-Generalsekretär António Guterres mit einer Teilnahme dem Treffen und einem möglichen Abkommen zusätzliches Gewicht verleihen könnte. Laut einem UN-Sprecher wird Guterres am Sonntag an einer internationalen Meereskonferenz in Lissabon teilnehmen. Danach könnte er sich auf den Weg in die Türkei machen, um zu helfen, das Abkommen über den sicheren Export des ukrainischen Getreides abzuschließen.
Die G7-Außenminister betonten am Freitag, sie unterstützten die Bemühungen der UN, die Route für Weizen über das Schwarze Mehr „dringend“ zu öffnen. Sie kritisierten in einer gemeinsamen Erklärung, Russlands Krieg verschärfte die Nahrungsmittelkrise durch die Blockade des Schwarzen Meeres, die Bombardierung von Getreidesilos und Häfen und die Beschädigung der landwirtschaftlichen Infrastruktur der Ukraine“. Die Ukraine war vor dem Krieg einer der weltweit größten Exporteure von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl.
Zum aktuellen Stand der Gespräche verhängten die UN eine Nachrichtensperre. Auf die Frage des Handelsblatts nach Fortschritten und der konkreten Ausgestaltung eines Abkommens sagte ein UN-Sprecher lediglich: „Wir werden zu gegebener Zeit informieren.“ Ein erster Vermittlungsvorstoß der Türkei ohne Einbindung der UN war vor einigen Wochen gescheitert.
Im Gespräch mit seiner britischen Amtskollegin Liz Truss erläuterte Çavuşoğlu aber am Donnerstag einige Details der geplanten Lösung: Im Falle einer Einigung solle ein Zentrum in Istanbul gemeinsam mit den UN den Export des Getreides – „oder jedes anderen Guts“ – aus ukrainischen in sichere internationale Gewässer koordinieren und gewährleisten. Das türkische Verteidigungsministerium bereitet dazu bereits die nötige Minenräumung im Schwarzen Meer vor.
Außerhalb der ukrainischen Hoheitsgewässer solle eine Sicherheitszone geschaffen werden, in der insbesondere Schiffe, die ukrainische Häfen anlaufen, kontrolliert würden, „um sicherzustellen, dass sie keine Waffen oder Ähnliches an Bord haben“. Damit soll den ukrainischen Ängsten Rechnung getragen werden, dass die russische Armee die Minenräumung vor den ukrainischen Häfen zu einem Angriff von der See nutzen könnte.
Lagerhalle bei Odessa
Am Freitag wurde eine Lagerstätte bei Bombardierungen zerstört.
Bild: IMAGO/Ukrinform
UN-Organisationen würden die Agrargüter bei einer Einigung verteilen, sie würden nicht in die Türkei gelangen. Vor allem das Welternährungsprogramm steht für einen logistischen Einsatz bereit. Die weltweit größte humanitäre Organisation bezog vor Beginn des Krieges enorme Mengen landwirtschaftlicher Produkte über die Häfen am Schwarzen Meer: Die Ukraine war mit Lieferungen von 800.000 Tonnen jährlich die größte Bezugsquelle von Weizen für das WFP.
Die Zeit drängt, denn in den Empfängerländern wird der Hunger mit jedem Tag schlimmer. Und mit der neuen Ernte muss Platz in den Lagern in der Ukraine geschaffen werden. „Wir wissen, dass dieses Problem bis spätestens nächsten Monat gelöst sein muss, oder es wird verheerende Folgen haben“, sagte Truss bei ihrem Besuch in Ankara. „Wenn das Problem hier nicht gelöst wird und Getreide nicht aus diesen Häfen entnommen werden kann, wird dies zu ernsthaftem Hunger führen.“
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Seeblockade bedrohen die Ernährungssicherheit auf der ganzen Welt. Einige Staaten wie Mauretanien oder der Libanon deckten ihren Weizenbedarf vor dem Krieg fast ausschließlich durch ukrainische Importe. Hinzu kommen bereits bestehende Versorgungsprobleme durch Klimakrise und Coronapandemie.
Nach neuesten Zahlen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) leiden 345 Millionen Menschen in 82 Ländern akut Hunger – 200 Millionen Menschen mehr als noch vor zwei Jahren. Das WFP rechnet mit einem Bedarf von 44 Milliarden Dollar, um alle Menschen ausreichend versorgen zu können. Davon sei gerade einmal die Hälfte finanziert.
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Bundeskanzler Olaf Scholz versprach am Freitag, dass vom G7-Gipfel eine „klare Botschaft“ an die von Hunger bedrohten Menschen weltweit ausgehen werde: „Wir sorgen dafür, dass euer Leben nicht zum Spielball zynischer Machtinteressen wird.“
Doch eine Lösung ist schwierig. Denn nicht nur in Kiew wird befürchtet, Russland könnte eine mögliche Entminung der Häfen für einen Angriff nutzen. „Ich rate dringend dazu, Wladimir Putin nicht auf den Leim zu gehen“, warnte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir am Freitag vor der Konferenz für globale Ernährungssicherheit.
Auch Außenministerin Annalena Baerbock zeigte sich skeptisch: „Wenn eine Regierung noch nicht einmal bereit ist, die Kernelemente des humanitären Völkerrechts zu beachten, unterstreicht das, warum es so schwierig ist, eine gemeinsame Lösung für Odessa zu finden.“
Ihr US-Amtskollege Antony Blinken schloss sich bei seinem Besuch in Berlin Baerbocks Skepsis an. Eine Einigung wäre zwar begrüßenswert, betonte Blinken, doch er fügte hinzu: „Ich habe Zweifel ob Russland ehrlich daran interessiert ist.“
Parallel werden deshalb alternative Ausfuhrwege für die riesigen Getreidelager gesucht. Bisher ist die Ausfuhr vor allem per Zug über Polen erfolgt. Ein mühseliges Unterfangen, bei dem im gesamten Monat Mai gerade einmal 1,7 Millionen Tonnen transportiert werden konnten.
Das liegt an den geringeren Ladekapazitäten der Züge, an unterschiedlichen Spurbreiten der Schienen, aber auch am Waggon- und Personalmangel. Dennoch kündigte Baerbock an, dass von Juli an täglich Transporte stattfinden sollen, die bisher nur einmal in der Woche möglich waren. Auch der Landweg über Rumänien und die Binnenschifffahrt über die Donau seien Möglichkeiten. Die EU-Kommission will Weizentransporte über Straße, Schiene und Binnenschiffe ausweiten.
Bei all den Problemen ist der jüngst starke Rückgang der Getreidepreise für Organisationen wie das Welternährungsprogramm eine Erleichterung. Dies liegt zum einen an Hoffnungen auf eine Lösung bei der Hafenblockade. Zum anderen aber auch daran, dass etwa die Ernten in Nordamerika vielversprechend aussehen. Denn Getreideanalysten betonen: Selbst wenn kommende Woche eine Lösung für das Getreide aus der Ukraine gefunden werde, dürfte es Monate dauern, bis die Millionen Tonnen wirklich abtransportiert werden.
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