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09.03.2022

18:43

Ukraine-Krieg

Perspektiven für einen Frieden: Eine schnelle Lösung ist unwahrscheinlich

Von: Torsten Riecke, Ozan Demircan, Martin Murphy, Pierre Heumann

Kiew und Moskau signalisieren Gesprächsbereitschaft, doch ihre Forderungen liegen weit auseinander. Wie es in dem Konflikt weitergehen könnte.

Selbst wenn die russischen Truppen in absehbarer Zeit militärisch die Oberhand bekommen sollten, ist fraglich, ob Russland einen möglichen Partisanenkrieg gewinnen würde. imago images/SNA

Russischer Panzer in der Ostukraine:

Selbst wenn die russischen Truppen in absehbarer Zeit militärisch die Oberhand bekommen sollten, ist fraglich, ob Russland einen möglichen Partisanenkrieg gewinnen würde.

Berlin Während in der Ukraine weiter geschossen wurde, haben jetzt beide Kriegsparteien überraschend hoffnungsfrohe Signale ausgesandt. Erst deutete ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski an, man könne mit Russland auch über die Neutralität seines Landes reden. Dann erklärte eine Sprecherin des russischen Außenministeriums, Moskau wolle weder die Regierung in Kiew stürzen noch das Nachbarland besetzen.

Ist damit der Weg zur diplomatischen Lösung des Konflikts vorgezeichnet? Beide Aussagen müssen mit Vorsicht betrachtet werden. Selenski verlangt für die Ukraine Sicherheitsgarantien, die Moskau schon im Budapester Memorandum 1994 gegeben und dann kaltblütig gebrochen hat. Zudem dürfte der ukrainische Präsident kaum auf die Kernforderungen des russischen Präsidenten eingehen.

Der hatte nicht nur die Verankerung der Neutralität in der ukrainischen Verfassung verlangt, sondern auch die offizielle Anerkennung der 2014 annektierten Krim als Teil Russlands. Zudem soll Kiew die Unabhängigkeit der beiden „Volksrepubliken“ im Donbass anerkennen.

„Die Ausgangspositionen Putins und der Ukraine sind zurzeit weit auseinander“, sagt Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Zumal Moskau weiterhin eine „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine fordert.

Ein erster Test für die Gesprächsbereitschaft könnte das für Donnerstag geplante Treffen zwischen dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und seinem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba im türkischen Antalya sein. Er erwarte davon nur wenig, dämpfte der Ukrainer die Hoffnungen auf eine baldige diplomatische Lösung.

Eine schnelle Lösung des Konflikts ist aus Sicht von Reiner Schwalb, Brigadegeneral a. D., unwahrscheinlich. Er rechnet nicht damit, dass Russland seine Truppen zurückzieht. Im Kern verbleiben aus Schwalbs Sicht zwei Optionen: „Ein Waffenstillstand, um einen Friedensvertrag auszuhandeln – oder die Ukraine führt den Krieg in der Hoffnung fort, dass sich irgendwann die politischen Verhältnisse ändern.“

Der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski verlangt für die Ukraine Sicherheitsgarantien. Zudem dürfte er kaum auf die Kernforderungen des russischen Präsidenten eingehen. dpa

Wolodomir Selenski

Der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski verlangt für die Ukraine Sicherheitsgarantien. Zudem dürfte er kaum auf die Kernforderungen des russischen Präsidenten eingehen.

Der ehemalige Verteidigungsattaché der deutschen Botschaft in Moskau sieht beide Perspektiven kritisch. Bei der einen drohe ein langer, blutiger Dauerkonflikt. Bei der anderen komme es zwar zu einem Waffenstillstand, doch den könne es nur zu Putins Bedingungen geben. „Eine autokratisch geführte Nuklearmacht verliert keinen Krieg gegen eine Macht, die keine Nuklearwaffen besitzt.“ Letztlich käme dieser Schritt einer Kapitulation Kiews gleich, mit der entsprechend schwächeren Position bei den Verhandlungen über einen Friedensvertrag.

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Dass die ersten Gespräche zwischen den Außenministern in der Türkei stattfinden, ist kein Zufall. Staatschef Recep Tayyip Erdogan unterhält gute Beziehungen zu beiden Ländern und hat sich bisher nicht an Sanktionen gegen Moskau beteiligt. Außerdem arbeiten Russland und die Türkei bei vielen schwierigen Themen zusammen und haben selbst nach heftigen Zerwürfnissen den gemeinsamen diplomatischen Weg fortgesetzt.

Im Syrienkrieg etwa fahren die Militärs beider Länder gemeinsame Patrouillen auf wichtigen Handelsrouten. Putin und Erdogan, die sich häufiger als gute Freunde bezeichnet haben, wissen, wie sie miteinander umzugehen haben. Sollte Putin einem Waffenstillstand zustimmen, wäre Erdogan als Mediator vermutlich ein guter Partner.

Allerdings ist die Türkei ein Nato-Mitglied und verfügt über die zweitgrößte Streitkraft des Bündnisses. Das Land könnte bei einer weiteren Eskalation, etwa durch einen russischen Angriff auf ein Nato-Land in Osteuropa, über den Bündnisfall in den Konflikt hineingezogen werden.

Schwierige Vermittlerrolle für Israel

Wie schwierig eine Vermittlung ist, hat gerade Israels Premier Naftali Bennett bei einem Besuch in Moskau erfahren. Die Verhandlungen über eine Waffenruhe seien in einer „kritischen Phase“, wird in Jerusalem aus Regierungsquellen zitiert. Putin habe eine „endgültige“ Version seines Angebots zur Beendigung der Krise vorgelegt. Selenski könne diese annehmen – oder auch nicht.

Bennett schätzte Putins Vorschlag als „schwierig“, aber nicht als „unmöglich“ ein. Selenski stehe vor dem Dilemma, dass er für die Unabhängigkeit der Ukraine nicht nur Teile seines Landes aufgeben müsste. Er müsse auch versichern, keine Nato-Mitgliedschaft anzustreben, die Armee zu verkleinern und sich als neutral zu erklären. Und das, ohne sicher sein zu können, dass Putin sich an Absprachen hält.

Selenski beharrt deswegen darauf, dass die Ukraine mit all ihren Nachbarn und unter Beteiligung der USA, Frankreichs, Deutschlands und der Türkei ein kollektives Sicherheitsabkommen braucht. „Westliche Länder müssten bereit sein, diesen Frieden zu garantieren und der Ukraine dabei aktiv zu helfen, rasch eine relevante Abschreckungs- und Selbstverteidigungskapazität gegen Russland aufzubauen“, analysiert der Außenpolitik-Experte Ulrich Speck.

Putin müsse also die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine dauerhaft akzeptieren, aber dazu sei er offenkundig noch nicht bereit. „Solange er glaubt, seine Ziele mit militärischen Mitteln und mit vertretbaren Kosten erreichen zu können, wird er nur die Kapitulation der Ukraine als Ergebnis akzeptieren“, ist sich Speck sicher.

Es droht ein Partisanenkrieg

Der Krieg könnte sich nach Meinung der Militärs über Jahre hinziehen. Selbst wenn die russischen Truppen in absehbarer Zeit militärisch die Oberhand bekommen sollten, könne Putin einen folgenden Partisanenkrieg kaum gewinnen, sagt Ex-Brigadegeneral Schwalb voraus. „Er könnte ein gewisses Maß an Kontrolle über Teile der Ost- und Südukraine und wahrscheinlich auch über Kiew erlangen, während er einen ukrainischen Aufstand bekämpft, der vom Westen aus operiert und im Land zu einem Guerillakrieg führt“, warnen die beiden US-Historiker Liana Fix und Michael Kimmage vom German Marshall Fund.

Der russische Präsident lässt sich bislang weder durch Diplomatie noch durch Sanktionen von seinem Angriffskrieg abbringen. dpa

Wladimir Putin

Der russische Präsident lässt sich bislang weder durch Diplomatie noch durch Sanktionen von seinem Angriffskrieg abbringen.

Eine russifizierte Ukraine möge in Moskau als Fantasie existieren, schreiben die beiden Amerikaner in der Zeitschrift „Foreign Affairs“. Aber in der Praxis könne die Idee Putins aufgrund der schieren Größe der Ukraine und der jüngsten Geschichte des Landes niemals funktionieren.

Dass der russische Präsident von sich aus seine Truppen aus der Ukraine zurückzieht, hält Schwalb für unwahrscheinlich. Der russische Präsident habe vermutlich das Schicksal von Nikolaus II vor Augen. Die Macht des Zaren war erodiert, nachdem er den Krieg gegen Japan 1904/05 verloren hatte.

Die Ära der Zaren endete mit seinem Sturz im März 1917. Dass Putin bald ein ähnliches Schicksal ereilen könnte, halten Experten jedoch für unwahrscheinlich. „Bisher sehe ich keine Anzeichen, dass Putins Diktatur in Gefahr geraten könnte“, sagt Ex-Diplomat Heusgen. Damit bleiben aus Sicht von Brigadegeneral Schwalb für die Ukraine nur schlechte Alternativen – Pest oder Cholera. Eine Entscheidung darüber dürfe aber nur das Land selbst treffen.

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