PremiumNach Stunden der Unsicherheit erklärt das Verteidigungsbündnis, dass der Raketeneinschlag in Polen kein gezielter Angriff war. Folgenlos bleibt er aber nicht.
Einschlagort im polnischen Grenzgebiet
Eine Rakete schlägt im Nato-Mitgliedsland Polen ein. Zwei Menschen sterben.
Bild: ddp/abaca press
Warschau, Nusa Dua, Moskau Der späte Dienstagabend ist ein Abend des Schreckens. Eine Rakete schlägt im Nato-Mitgliedsland Polen ein. Zwei Menschen sterben. Handelt es sich um den ersten russischen Angriff auf Nato-Territorium? Von einer „Eskalation“ spricht der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in einer Videoansprache. Man habe nun den Beweis, dass der „russische Terror nicht durch unsere Staatsgrenzen begrenzt ist“. Moskau hingegen spricht „von einer gezielten Provokation“ der Ukraine.
Bei ihrem Gipfel in Indonesien schalten Vertreter der G20-Staaten und der Nato umgehend in den Notfallmodus. Die Regierungschefs telefonieren, diskutieren, mahnen zur Vorsicht – aber die zentrale Frage bleibt zunächst unbeantwortet: Löst der Vorfall eine unheilvolle Kettenreaktion aus, die das transatlantische Verteidigungsbündnis in den Krieg mit Russland ziehen könnte?
Eine russische Provokation auf polnischem Staatsgebiet wäre ein Horrorszenario, denn Artikel 5 des Nato-Gründungsvertrags besagt, dass ein Angriff auf ein Mitgliedsland als Angriff auf alle Nato-Mitglieder betrachtet wird.
Am Mittwoch dann die Entwarnung. Die Nato erklärte nach einem Krisentreffen, dass höchstwahrscheinlich eine ukrainische Luftabwehrrakete die tödliche Explosion auf polnischem Territorium verursacht hat. Generalsekretär Jens Stoltenberg und Polens Präsident Andrzej Duda betonten jedoch, dass sie Kiew nicht in der Verantwortung sehen – denn die Ukraine habe lediglich versucht, sich zu verteidigen. Duda sprach von einem „unglücklichen Unfall“, nicht von einem direkten Angriff auf sein Land.
Zumindest war damit etwas ausgeschlossen, wovor Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach gewarnt hatte: dass die Nato in den Krieg hineingezogen wird. Eine gezielte russische Attacke gegen Polen hätte bedeutet, dass das Verteidigungsbündnis nicht um eine entschlossene und deutliche Reaktion herumgekommen wäre. Auch um glaubwürdig zu bleiben.
Erledigt ist der Fall damit aber noch lange nicht. Scholz mahnte nach dem Ende des G20-Gipfels in Bali, die Ursache des Einschlags dürfe nicht aus dem Blick geraten. Der Vorfall wäre nicht passiert „ohne den russischen Krieg gegen die Ukraine, ohne die Raketen, die jetzt intensiv und in großem Ausmaß auf die ukrainische Infrastruktur verschossen werden“. Dies hörte sich bei anderen G20-Staatschefs ähnlich an. Tenor: Die unmittelbare Ursache des Raketeneinschlags in Polen war zwar ein ukrainischer Querschläger, Russland ist aber grundsätzlich verantwortlich für den Vorfall.
Tatsächlich war die militärische Situation schon Stunden vor dem Zwischenfall durch ein massives Bombardement Russlands auf ukrainische Städte eskaliert. Ukrainischen Angaben zufolge wurde dabei die Energieversorgung so stark beschädigt, dass zeitweise zehn Millionen Menschen im Land ohne Strom ausharren mussten.
Die mehr als 90 Raketen, die am Dienstag in Kiew und in anderen Orten der Ukraine einschlugen, könnten nach Ansicht westlicher Experten eine Antwort Wladimir Putins auf die Demütigung von Bali gewesen sein. Die westlichen Staaten hatten bereits kurz vor dem offiziellen Gipfelbeginn auf der indonesischen Insel eine gemeinsame Erklärung ausgehandelt, die eine Verurteilung des Kriegs enthält – auch wenn klargestellt ist, dass nur „die meisten“ G20-Mitglieder das so sehen.
Am Mittwoch konnte der indonesische Präsident Joko Widodo die offizielle Annahme der Abschlusserklärung verkünden, jenes 19 Seiten langen Dokuments, das Unterhändler bereits vor dem Spitzentreffen in äußerst langen und schwierigen Gesprächen ausgehandelt hatten.
G20-Gipfel auf Bali
Die Regierungschefs der westlichen Länder – darunter US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz, der britische Premier Rishi Sunak und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron – diskutieren am Mittwoch die Situation nach der Meldung vom Raketeneinschlag in Polen.
Bild: Bundesregierung via Getty Images
Doch hatte das überhaupt noch eine Bedeutung? War der Gipfel nicht vergebens, weil Russland mit seinen Raketenangriffen deutlich machte, dass es sich von anderen G20-Staaten nichts vorschreiben lässt und dass es auf Verurteilungen pfeift?
Bundeskanzler Scholz machte deutlich, dass er dies anders sieht. „Hier in Indonesien hat ein außerordentlicher G20-Gipfel stattgefunden“, sagte der SPD-Politiker am Mittwoch nach Abschluss der Tagung. „Dass es hier Verständigungen gegeben hat, die weit über das hinausreichen, was zu erwarten war, das bleibt der Erfolg dieses Gipfels.“
Scholz verurteilte dabei die heftigen Angriffe auf die Ukraine: „Wir stellen fest, dass Elektrizitätswerke zerstört werden, dass Umspannleitungen getroffen werden, dass Wasserversorgung zerstört wird. Diese Form der Kriegsführung in diesem ohnehin ungerechtfertigten Krieg ist inakzeptabel.“ Man werde zusammen mit der Ukraine und Nato-Partnern prüfen, welche Konsequenzen das massive russische Bombardement in der Ukraine für die weitere militärische Ausrüstung der Ukraine habe.
Doch auch Polen will die Bundesregierung stärker unterstützen, das sei die Konsequenz aus dem Raketenanschlag im Grenzgebiet. Die Bundeswehr werde das Land künftig bei seiner Luftraumüberwachung stärken, hieß es in Berlin.
Die Bedeutung einer starken Luftraumüberwachung an der Nato-Ostgrenze betonte auch Litauens Präsident Gitanas Nauseda. Der Raketeneinschlag in Polen verändere zwar nicht das Niveau der militärischen Bedrohung, zeige aber, dass Flugabwehrsysteme an der Ostflanke der Nato künftig sehr viel schneller stationiert werden müssten. „Litauen wird den Einsatz von Luftverteidigung entlang der polnisch-ukrainischen Grenze aktiv unterstützen.“ Dies gelte auch für die übrige Ostflanke.
Stefan Meister, Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), lobte die besonne Reaktion des Verteidigungsbündnisses. Dem Handelsblatt sagte er: „Die Nato will auf keinen Fall in diesen Krieg direkt hineingezogen werden.“ Dennoch sprach er von einer riskanten Situation, „die zu einer Kurzschlussreaktion hätte führen können“. Kritik übte er auch an der ukrainischen Rhetorik. Der ukrainische Präsident Selenski hatte am Dienstag von „Russlands Raketenterror“ gesprochen. „Die Ukraine und insbesondere Präsident Selenski spielen rhetorisch damit, die Nato stärker zu involvieren. Man erhofft sich dadurch mehr militärische Unterstützung.“
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Er sei erstaunt, dass es zu einem solchen Vorfall nach so vielen Kriegsmonaten nicht schon früher gekommen ist. Durch Zwischenfälle wie diesen steige durchaus „die Gefahr eines größeren Kriegs, an dem die Nato mit eigenen Truppen direkt beteiligt ist“. Nun müsse die Aufklärung im Vordergrund stehen.
Wahrscheinlich ist schon jetzt, dass es sich um den Einschlag einer S-300-Rakete handelte. Ulrich Kühn, Leiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), sagte dem Handelsblatt: „Das System ist relativ alt, es stammt noch aus der Sowjetunion.“ Russland verkaufe die Waffe seit vielen Jahren an diverse Länder, unter anderem auch an die Ukraine.
Zu denken, die Rakete müsse auch von den Russen abgeschossen worden sein, sei demnach ein Fehlschluss. Grundsätzlich seien die Raketen „recht zielgenau“, meint Kühn. „Aber wir sprechen von einem etwa 40 Jahre alten System: Natürlich passiert es, dass solche Raketen auch mal in eine andere Richtung fliegen.“ Historisch habe es immer wieder Fälle von Fehlläufern gegeben. Außerdem könne man nicht kontrollieren, wo die Trümmerteile hinfallen.
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