PremiumIn der jüngst befreiten Stadt werden gegenwärtig 445 Leichen exhumiert. Die Besetzung hinterlässt auch anderswo in der Ukraine Narben.
Wien Butscha und Irpin, wo Hunderte von Ukrainerinnen und Ukrainern ermordet, vergewaltigt und gefoltert wurden, sind zum Symbol für Russlands Schreckensherrschaft geworden. Auch Präsident Selenski zog sofort entsprechende Parallelen, nachdem die Behörden in der kürzlich befreiten Stadt Isjum die Gräber von 445 Menschen gefunden hatten: „Butscha, Mariupol und jetzt leider auch Isjum“, sagte er in seiner Videoansprache am Donnerstag. „Russland hinterlässt überall Tod.“
Die Bilder der mit einfachen Holzkreuzen markierten Erdhügel inmitten von Bäumen lassen erahnen, welches menschliche Leid Russlands Einmarsch mit sich brachte. Laut den ukrainischen Behörden handelt es sich größtenteils um Einzelgräber, die meist mit Zahlen statt Familiennamen beschriftet sind. Bekannt ist bis jetzt ein Massengrab, das die sterblichen Überreste von ungefähr zwei Dutzend gefallenen ukrainischen Soldaten enthalten soll.
Unter welchen Umständen die sonst größtenteils aus der Lokalbevölkerung stammenden Menschen ums Leben kamen, ist nur in Ansätzen bekannt. Die Untersuchung der Grabstätte durch Gerichtsmediziner und Spezialisten der Polizei hat erst begonnen.
Der Chefermittler der Oblast Charkiw erklärte, einige der Opfer seien erschossen worden, andere wohl indirekt den Kämpfen zum Opfer gefallen. Am Freitagabend erklärte Dmitro Lubinez, der Ombudsmann des ukrainischen Parlaments für Menschenrechte, man habe 20 Leichen von Soldaten gefunden, die zunächst gefoltert und dann erschossen worden seien. Die Hände der mutmaßlichen Kriegsgefangenen seien auf dem Rücken zusammengebunden gewesen.
Vorsichtig äußerte sich der ukrainische Bevollmächtigte für Vermisste, Oleh Kotenko: „Ich denke, die Mehrheit kam während des Beschusses der Stadt ums Leben, das ist uns aufgrund der Daten klargeworden: Die Leute wurden getötet, als die Russen die Stadt mit Artillerie beschossen.“ Dies zeigten nicht nur die vorhandenen Sterbebücher, sondern auch die Tatsache, dass die ukrainischen Behörden durch ein bereits im Frühling publiziertes Video der Russen auf die Gräber aufmerksam wurden. Die erste Schlacht um Isjum hatte am 3. März begonnen. Wie andernorts nahmen die Okkupanten kaum Rücksicht auf zivile Infrastruktur oder nahmen diese gar bewusst ins Visier.
Klar ist hingegen, dass die Grabstätte nur eine besonders große unter vielen ist. Anderswo im befreiten Gebiet der Charkiwer Oblast sind die Behörden auf 50 Leichen von Menschen gestoßen, die gewaltsam ums Leben kamen. Die ukrainische Polizei meldet zudem, man habe in der Region bisher 10 Verhörräume gefunden, in denen auch gefoltert worden sei. In der vergangenen Woche seien 204 Verfahren wegen möglicher Kriegsverbrechen eingeleitet worden.
Für Olexandra Romanzowa decken sich diese vorläufigen Informationen mit den Erfahrungen in anderen Regionen wie Kiew oder Sumi. „Jedes Mal, wenn die Russen ein Gebiet besetzten, töteten sie Leute. Aus vielen Gründen – weil sie jemanden nicht mochten, weil sie schlechte Laune hatten oder betrunken waren, aufgrund irgendeines Befehls“, erläutert die Leiterin des Zentrums für Bürgerrechte in Kiew.
Ihre Nichtregierungsorganisation dokumentiert vermutete Kriegsverbrechen seit dem 24. Februar akribisch, auch in den besetzten Gebieten. 19.282 Fälle sind bis Freitag zusammengekommen, etwa zwei Drittel davon in den Gebieten Luhansk, Donezk, Charkiw und Cherson, die alle zumindest teilweise besetzt sind.
Primärquellen sind die Erzählungen von Vertriebenen, die in den befreiten Gegenden nun vor Ort untersucht werden müssen. Romanzowa erwartet eine weitere Welle von Ermittlungen, sobald die Leute in ihre Heimatorte zurückkehren oder in befreiten Dörfern Zugang zu ukrainischen Ermittlern erhalten. „Was wir nun sehen, ist erst der Anfang.“
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Romanzowa weist allerdings darauf hin, dass es den ukrainischen Behörden an Spezialisten mangle, um die Untersuchungen durchzuführen. „Wir brauchen dafür internationale Hilfe.“ Diese erhält die Ukraine auch: So haben die Vereinten Nationen laut einem Bericht von CNN beschlossen, ein Team nach Isjum zu schicken. Auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag untersucht seit März Kriegsverbrechen im Land.
Solange nicht mehr Details aus Isjum bekannt sind, äußert sich die Kiewerin nur vorsichtig zu den Vergleichen mit Butscha. Oleh Kotenko hatte diese noch zurückgewiesen. „Ich will das hier nicht Butscha nennen“, meinte er. Die Menschen seien zivilisierter begraben worden. Für Romanzowa hingegen stehen die Fragen im Vordergrund: „Haben die Russen wie in Butscha Schulen gezielt mit Artillerie beschossen und Menschen als menschliche Schutzschilde benutzt? Oder gab es in Isjum trotz Besetzung gewisse Regeln?“ Sie hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass auch die Russen zu Lernprozessen fähig sind. Sehr optimistisch ist sie jedoch nicht.
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