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10.02.2023

17:21

Ukraine-Krieg

Russland verstärkt seine Luftangriffe – ist das jetzt die Großoffensive?

Von: Mathias Brüggmann, Moritz Koch, Mareike Müller, Frank Specht

Die russische Armee hat erneut Ziele in der Ukraine massiv aus der Luft angegriffen und rückt vereinzelt am Boden vor. Doch muss sie dabei erhebliche Rückschläge hinnehmen.

Vereinzelt sind den russischen Angreifern Geländegewinne gelungen. Reuters

Ein ukrainischer Soldat feuert nahe der Stadt Wuhledar Granaten auf russische Stellungen

Vereinzelt sind den russischen Angreifern Geländegewinne gelungen.

Lwiw, Brüssel, Riga, Berlin Am Freitag haben in der Ukraine wieder die Sirenen geheult, selbst in weit westlich gelegenen Städten wie Lwiw hat es Luftalarm gegeben. „Russland hat die ganze Nacht und den ganzen Morgen über ukrainische Städte angegriffen“, twitterte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak – und forderte die Alliierten auf, der Ukraine rasch auch Kampfflugzeuge und weitreichende Raketen zur Verfügung zu stellen.

Nach Angaben des ukrainischen Oberbefehlshabers Walerij Saluschnyj feuerte die russische Armee innerhalb von rund 14 Stunden 71 Marschflugkörper, bis zu 35 S-300-Raketen und sieben Drohnen auf Ziele in der Ukraine ab. 61 Marschflugkörper und fünf Drohnen seien von der Luftabwehr abgeschossen worden.

Markieren die Angriffe aus der Luft, die erneut vorrangig auf die Energieinfrastruktur zielten, den Beginn einer erwarteten russischen Großoffensive? Zumal die russischen Streitkräfte auch auf dem Boden ihre Angriffe entlang des Frontverlaufs zwischen den Ortschaften Svatove und Kreminna fortsetzten.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sei bei seinem Besuch in Brüssel am Donnerstag erkennbar besorgt gewesen, berichten Diplomaten aus den vertraulichen Gesprächen während des EU-Gipfels. Der Ukraine stünden schwere Wochen und Monate bevor, so lautet die Einschätzung in Brüssel. Die Zeit, die ukrainischen Truppen für eine russische Frühjahrsoffensive zu stärken, läuft davon.

Für den früheren Bundeswehr-General und ehemalige Direktor der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), Kersten Lahl, ist klar: Falls Russlands Präsident Wladimir Putin einen halbwegs greifbaren militärischen Erfolg bis zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar vorweisen wolle, müssten die offensiven Operationen „jetzt oder in Bälde beginnen“.

Das britische Verteidigungsministerium, das täglich Informationen seiner Geheimdienste veröffentlicht, berichtete am Freitag, dass den russischen Truppen in zwei zentralen Regionen taktische Geländegewinne gelungen seien. So seien Kämpfer der Söldnergruppe Wagner im Norden der Stadt Bachmut zwei bis drei Kilometer nach Westen in Richtung einer wichtigen Verbindungsstraße vorgestoßen. Auch bei der Stadt Wuhledar hätten die russischen Truppen Erfolge erzielt.

Allerdings sollen die Vorstöße mit teils erheblichen Verlusten an Menschen und Material verbunden sein. Nach einem missglückten Angriff hätten fliehende russische Truppen mindestens 30 nahezu intakte Fahrzeuge zurückgelassen. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums haben die russischen Angreifer seit Kriegsbeginn bereits 3258 Kampfpanzer, knapp 6500 gepanzerte Fahrzeuge und rund 2250 Artilleriesysteme verloren.

Stand vom 11. Februar 2023.

Die aktuelle Lage an der Kriegsfront

Stand vom 11. Februar 2023.

Nach Angaben des Washingtoner Institute for the Study of War (ISW), das regelmäßig militärische Analysen zur Lage in der Ukraine veröffentlicht, setzten die russischen Streitkräfte zuletzt auch ihre Offensivoperationen im Gebiet um die Stadt Luhansk fort. Außerdem hätten russische Truppen westlich von Donezk und im Gebiet um die Stadt Awdijiwka in „begrenztem“ Umfang Angriffe mit Bodentruppen unternommen.

Otto Tabuns, Leiter des Thinktanks Baltic Security Foundation mit Sitz in Riga, erwartet, dass das russische Militär von nun an Schritt für Schritt den Druck auf die Ukraine erhöhen wird und die Angriffe noch weiter intensiviert. Im Vergleich zur Situation bei Kriegsbeginn habe das russische Militär in taktischer Hinsicht dazugelernt. „Das macht den Ukrainern Sorge“, sagt Tabuns.

Sicherheitsexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) schreibt in einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Analyse, dass die Teilmobilmachung vom September Russland geholfen habe, seine Stellungen besser zu verteidigen und Vorstöße zu unternehmen. 150.000 bis 200.000 Soldaten würden aktuell noch trainiert, könnten aber zeitnah an den Kämpfen teilnehmen.

Die russische Verteidigungsindustrie erweise sich trotz der Sanktionen als erstaunlich robust, schreibt Gressel weiter. Trotz Vorhersagen, dass Russland die Munition ausgehen könnte, feuere die Artillerie seit Oktober auf relativ konstantem Niveau. Die russische Panzerproduktion sei deutlich gesteigert worden und zuletzt träten auch verstärkt modernere Typen wie der T-90M auf dem Schlachtfeld in Erscheinung.

Russland wird bis zum Frühsommer in der Offensive bleiben

Russland, so vermutet der ECFR-Experte, werde wahrscheinlich bis zum Frühsommer in der Offensive bleiben. Ohne eine erneute Mobilisierung sei es aber kaum in der Lage, vorgezogene Frontstellungen zu halten. Mit einer größeren ukrainischen Offensive ist Gressel zufolge kaum vor der zweiten Jahreshälfte zu rechnen, weil das dafür notwendige Gerät noch nicht zur Verfügung steht.

Inzwischen seien die russischen Angreifer den ukrainischen Verteidigern zahlenmäßig überlegen, so lautet auch die übereinstimmende Einschätzung mehrerer EU-Staaten. Die ukrainische Armee braucht deshalb Truppentransporter, Panzer und Artilleriegeschütze, um die quantitativen Nachteile auszugleichen. Und vor allem darf der Nachschub an Munition nicht ausgehen. Die Front ist etwa 1200 Kilometer breit – und entsprechend schwer zu halten.

Die russische Armee hat seit der Nacht zu Freitag erneut massive Luftangriffe auf Ziele in der Ukraine unternommen. AP

Einwohner Kiews suchen in einer U-Bahn-Station Schutz vor Luftangriffen

Die russische Armee hat seit der Nacht zu Freitag erneut massive Luftangriffe auf Ziele in der Ukraine unternommen.

Die westlichen Lieferungen von Waffen und Munition müssten sich beschleunigen, räumen Diplomaten ein. Doch die Vorräte in Europa werden knapp. Die Hersteller kommen mit den Aufträgen nicht hinterher, weshalb sich die EU-Staaten längst auch außerhalb Europas umsehen, darunter in Südkorea. Doch als Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kürzlich in Seoul war, konnte er die südkoreanische Regierung nicht zu Munitionslieferungen überreden.

Nach Einschätzung des Rigaer Sicherheitsexperten Tabuns wird Russland nun austesten, wie lange der Westen die Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten kann. Und je mehr Eskalationspotenzial Russland zeige, desto eher würden die westlichen Alliierten der Ukraine neue Hilfen wie die Lieferung von Kampfflugzeugen in Erwägung ziehen.

Sorgen vor einer Eskalation des Krieges schürten am Freitag Meldungen, wonach Russland bei seinen jüngsten Luftangriffen den Luftraum der Republik Moldau und Rumäniens verletzt haben soll. Der ukrainische Oberbefehlshaber Saluschnyj sagte dem Nachrichtenportal „Meduza“ zufolge, dass zwei vom Schwarzen Meer abgefeuerte Marschflugkörper auf dem Weg zum Ziel die Grenzen beider Länder überflogen hätten.

Das Verteidigungsministerium Moldaus bestätigte die Information. Das rumänische Verteidigungsministerium bestritt, dass auch der eigene Luftraum tangiert worden sei.

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