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12.03.2022

19:39

Ukraine-Krieg

„Wir müssen vorbereitet sein” – Europa sucht Umgang mit Ukraine-Geflüchteten

Von: Daniel Delhaes

An der polnisch-ukrainischen Grenze berieten die EU-Verkehrsminister. Dabei ging es vor allem um eine Frage: Wie kann Europa Polen am besten im Umgang mit Flüchtenden unterstützen?

Warten auf die Weiterfahrt nach Westen. Reuters

Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht

Warten auf die Weiterfahrt nach Westen.

Korczowa, Przemysl Glówny Der kleine Junge mit der übergroßen weißen Acht auf seinem dunklen Pulli greift zielsicher in die Kiste und schnappt sich den blauen Wal aus Stoff. Seine Mutter zeigt ihm noch eine Giraffe und eine Maus, aber mit dem Selbstbewusstsein eines Sechsjährigen bleibt er bei der Wahl seines neuen Freundes. Die Mutter lächelt ihn an. Er soll nicht wissen, wie traurig sie ist. Blass ist ihr Gesicht, die Augen sind müde und erschöpft.

Zwei rosafarbene Koffer hat sie dabei und einen Buggy für den noch kleineren, vielleicht drei Jahre alten Sohn, als sie sich über die ukrainisch-polnische Grenze in Sicherheit vor Russlands Angriffskrieg bringt.

Hier in Korczowa, direkt im Südosten an der polnisch-ukrainischen Grenze, herrscht normalweise geschäftiger Betrieb. Heute aber dient die riesige Markthalle längst als Ankunftshalle. Die Outlets von Zara und Mango stehen leer, allein beim Badhersteller Kaldewei funkeln Waschbecken und Badewannen. Geschäfte dienen als Lager für Kosmetika, Handtücher und Decken, für Lebensmittel und Spielsachen oder als kleines Buffet mit Reis und Gemüse.

Ehrenamtliche helfen den Gestrandeten, Soldaten der polnischen Armee sortieren Hilfsgüter und verteilen sie. Ein gebückter, alter Mann bittet um etwas Shampoo, seine Frau um etwas Creme. Vor den Schaufenstern sitzen Frauen und Kinder in ihren Jacken auf den Liegen, essen etwas, puzzeln oder spielen Lego, manche schlafen, nach all den Kilometern, die sie hinter sich haben, andere warten still.

Momentan bleiben viele Liegen leer, Familien informieren sich in der Vorhalle über die Weiterfahrt, andere ziehen ihre Koffer schon nach draußen zum Bus. Noch am Montag war hier kaum ein Durchkommen, wie Steffen Krollmann, Chef der Arbeiterwohlfahrt in Frankfurt am Main, berichtet. Er hat spontan mit Kollegen Arzneimittel und Verbandsmaterial gebracht und will Menschen mit nach Deutschland nehmen. „Es kommen kaum noch Menschen an“, sagt er.

Aber längst hat Russland auch die Städte im Westen der Ukraine ins Visier genommen. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis das Leid und der Krieg die Menschen in der Ukraine wieder vermehrt gen polnische Grenze Schutz suchen lassen.

Welchen Beitrag können die EU-Staaten leisten?

Und damit steht Europa vor der Frage: Wie lässt sich diesen Menschen helfen? Darüber berieten der polnische Verkehrsminister Andrzej Adamczyk mit seinen Kollegen aus Deutschland, Frankreich, Österreich und Tschechien, bevor sie sich am Samstag die Lage an der Grenze anschauten. Auch die EU-Verkehrskommissarin Adina Valean war dabei sowie die nationalen Bahnchefs.

Die Runde saß zunächst am Freitagabend in einem Konferenzsaal des Hilton Airport Hotels in Krakau. Der ukrainische Kollege war zugeschaltet – und plötzlich erschien auch Präsident Wolodimir Selenski im Bild. „Hey guys!“, rief er und legte seinem Verkehrsminister freundschaftlich den Arm um die Schultern. In seiner Militärmontur erklärte er gen Krakau, er sitze gleich nebenan und wolle sich für die Unterstützung bedanken. Seine Zuhörer standen auf und applaudierten. Der Präsident habe Optimismus ausgestrahlt.

Sein Minister berichtete über zerstörte Infrastruktur, Wassermangel in den Städten, Kinder in Not. Es gebe nur noch wenige unzerstörte Verkehrswege. Dies erschwert die Flucht und die Hilfsgütertransporte.

Polen hat schon 1,5 Millionen Hilfesuchende aufgenommen. Welchen Beitrag können und sollen die anderen EU-Staaten leisten?

Ukrainer benötigen kein Visum in Europa, sie benutzen Züge nach Fahrplan. Derzeit genügt der Ausweis als Fahrkarte. Sie kommen nicht nur in Polen an, sondern fahren zum Teil auch weiter nach Berlin. Der „Flaschenhals“ sei in Deutschland dort, sagte Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) seinen Kollegen und forderte „einen europäischen Verteilungsschlüssel. Wir müssen vorbereitet sein.“ Noch steht die Freizügigkeit der Flüchtlinge nicht zur Disposition – aber wie lange noch?

Auf europäischer Ebene fehlen Absprachen

Es ist Aufgabe der Innenminister, zu klären, welche Nation, welches Bundesland wie vielen Kriegsflüchtlingen hilft. Auf europäischer Ebene gibt es aber noch keine Verabredung, nicht einmal einen Termin für ein Treffen. Wissing erklärte am Samstag im Erstaufnahmelager, er habe den französischen Kollegen gebeten, seine Regierung möge im Rahmen der Ratspräsidentschaft die Innenminister zusammenrufen.

In Deutschland hatte sich am Freitag Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden auf den Verteilungsschlüssel wie bei der Aufnahme der vielen Geflüchteten im Jahr 2015 verständigt.

Verkehrsminister Wissing sieht sich zuvorderst dafür zuständig, Transporte nach Deutschland zu organisieren. Nachdem die Polen erstmals vor zwei Wochen nach Hilfe riefen, habe die Bahn alte Interregiozüge bereitgestellt, die auf dem polnischen Netz fahren können.

Auch sammelt das Bundesunternehmen mit Lastwagen Hilfsgüter ein und schafft sie dann in Containerzügen mit polnischer und ukrainischer Hilfe ins Kriegsgebiet. Über Krankenzüge verfügt Deutschland nicht, hat aber laut Wissing Flugzeuge bereitgestellt, mit denen jeden Tag 44 Menschen in sichere Krankenhäuser gebracht werden können.

Mehr als eine Millionen Menschen sind bereits in Polen angekommen. Getty Images

Polnisches Hilfszentrum

Mehr als eine Millionen Menschen sind bereits in Polen angekommen.

„Wir müssen uns auf eine richtige Flüchtlingswelle vorbereiten“, mahnte Bahn-Chef Richard Lutz in Polen. Sein Unternehmen könne Sonderzüge fahren, mit Bussen aber sei es momentan flexibler. 300 Busse mit je 50 Plätzen habe er bereits organisiert, die nun auch in Polen aushelfen. Er könne auch für Schienenersatzverkehre vorgehaltene Busse aktivieren. Rahmenverträge mit 3000 Unternehmen habe er, die er „aktivieren“ könne.

Das Bahnhofsareal Przemysl Glówny ist nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Hier kommen die Züge aus dem westukrainischen Lemberg an, fahren eigentlich Nachtzüge nach Odessa. Am prachtvollen Bahnhofsgebäude weisen nun auf dem Fußboden Pfeile aus gelbem Klebeband den Weg. Kinder halten sich mit der einen Hand an der Mutter fest und mit der anderen an ihrem Stofftier oder ihrer Trinkflasche.

Still sind sie auch hier. Auf Plattform 2 warten sie geduldig auf den Zug. Auf Gleis 1 stehen die fünf Verkehrsminister und die EU-Transportkommissarin und verkünden ihre Solidarität mit der Ukraine und mit Polen. Die ukrainische Vizeministerpräsidentin dankt. „Wir wollen ein Zeichen setzen, dass wir gemeinsam stark sind gegen die russische Aggression“, sagte Minister Wissing.

Sonderzüge nach Deutschland werden fürs Erste nicht fahren. Dies sei erst richtig, wenn es „am Zielort auch Aufnahmekapazitäten gibt“, sagte Wissing. „Das ist Aufgabe der Innenminister.“

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