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01.09.2022

19:18

Ukrainisches Atomkraftwerk

Propagandaschlacht um Saporischschja: „Russland will nicht, dass die Welt die Wahrheit erfährt“

Von: Mathias Brüggmann

PremiumDie Inspekteure der Internationalen Atomenergiebehörde sind auf dem umkämpften AKW-Gelände eingetroffen. Doch die Wahrheitsfindung wird schwierig.

Russische Truppen hatten das Kraftwerk Anfang März besetzt. dpa

Russischer Soldat vor dem Kernkraftwerk Saporischschja

Russische Truppen hatten das Kraftwerk Anfang März besetzt.

Berlin Seit Wochen hält das umkämpfte ukrainische Atomkraftwerk in Saporischschja die Weltöffentlichkeit in Atem, am Donnerstag trafen erstmals Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) dort ein. Das Team um IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi erreichte am frühen Nachmittag die Anlage.

Russische Truppen halten das größte Kernkraftwerk Europas seit dem 4. März besetzt. Von dort beschießen sie regelmäßig das gegenüberliegende Ufer des Flusses Dnepr, das von der Ukraine gehalten wird.

Von den sechs Reaktoren der Anlage liefen am Mittwoch noch zwei. Am Donnerstagmorgen sei auch der vorletzte Block nach Angriffen russischer Helikopter durch Notabschaltung vom Netz genommen worden, teilte der ukrainische Atomkraftwerksbetreiber Energoatom mit.

Um Reaktorblock fünf zu sichern, habe nach der Notabschaltung ein Dieselgenerator zugeschaltet werden müssen. Denn auch die Stromleitung sei zerstört worden. Experten halten das für alarmierend: Ohne Strom für die nötigen Kühlanlagen droht in Atomkraftwerken eine Kernschmelze.

Russland wolle die Atomanlage vollständig vom ukrainischen Stromnetz trennen und den dort produzierten Strom auf die von Russland annektierte Schwarzmeerhalbinsel Krim umleiten, so Energoatom.

Nach Einschätzung westlicher Experten hatte Russland im Vorfeld der IAEA-Inspektion einen regelrechten Propaganda-Feldzug initiiert. So behauptete Putins Sprecher Dmitri Peskow, die Ukraine versuche mit allen Mitteln, die Mission von Generaldirektor Grossi zu verhindern.

Mit Schnellbooten habe die ukrainische Armee einen Anlauf unternommen, um auf die von Russland besetzte Seite des Flusses Dnepr überzusetzen. Angeblich sei es der Plan gewesen, das Kraftwerk zurückzuerobern und die Inspektion zu vereiteln. Für diese Behauptung der russischen Armeeführung konnte Moskau allerdings keine Beweise vorlegen. Die Ukraine bestritt einen Rückeroberungsversuch.

Drohungen an die ukrainischen Mitarbeiter

Zugleich berichtete der ukrainische Geheimdienst SBU von Säuberungsaktionen: Vor der IAEA-Visite seien von den Besatzern unliebsame ukrainische Arbeiter aus dem Kraftwerk entfernt worden, heißt es dort. Ihr Schicksal und ihr derzeitiger Aufenthaltsort seien unbekannt.

Verbliebene ukrainische Mitarbeiter sollen zudem von russischen Soldaten massiv angegangen worden sein. Ihnen seien harte Strafen angedroht worden für den Fall, dass sie gegenüber den Inspektoren Aussagen machen, die nicht im russischen Interesse sind. Manche Ukrainer seien sogar gefoltert worden, sagte der Bürgermeister von Energodar, Dmitro Orlow. Er hatte vor seiner Wahl zum Stadtoberhaupt selbst im Kraftwerk gearbeitet.

Angeblich werden bestimmte ukrainische Mitarbeiter des Kraftwerks vom Team ferngehalten. dpa

Expertenteam der Internationalen Atomenergiebehörde

Angeblich werden bestimmte ukrainische Mitarbeiter des Kraftwerks vom Team ferngehalten.

Während des Besuchs der 14-köpfigen IAEA-Delegation solle auf Geheiß der Russen die Anwesenheit ukrainischer Mitarbeiter auf ein Minimum reduziert werden, so Orlow. Zugleich sei angeordnet worden, in jedem Raum des Kontrollzentrums russische Vertreter in Kleidung des ukrainischen Kraftwerksbetreibers Energoatom zu platzieren.

Diese und die durch Folter eingeschüchterten ukrainischen Mitarbeiter sollten sagen, dass sie sich auf die „Befreiung vom Regime in Kiew“ freuten, sagte der Bürgermeister. Nach Angaben von Energoatom hatte das russische Militär nach der Besetzung des Kraftwerks im März mindestens 14 schwere militärische Ausrüstungsgegenstände in den Maschinenraum des ersten Kraftwerkblocks gebracht.

Am 22. August hätten die Besatzer dann zusätzliche gepanzerte Mannschaftstransporter und Spezialfahrzeuge in den Reparaturhallen des Kraftwerks positioniert. Aus diesen Feuerstellungen würden regelmäßig ukrainische Städte beschossen. Russland behauptet das Gegenteil: Die Ukraine greife das Kraftwerk an.

Neben den IAEA-Inspektoren sind auch der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko und der Chef von Energoatom, Petro Kotin, zum Atomkraftwerk Saporischschja gereist. „Russland will nicht, dass die Welt die Wahrheit erfährt“, twitterte Haluschtschenko.

IAEA-Chef Grossi kündigte am Donnerstagabend an, eine dauerhafte Mission in dem Atomkraftwerk zu etablieren. „Ich habe gerade einen ersten Rundgang durch die Schlüsselbereiche absolviert“, sagte er in einem auf Twitter veröffentlichten Video. Es gebe noch viel zu tun.

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