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22.11.2022

17:34

Unruhen im Iran

Provokationen bei der WM, Aufstände im Land – Verliert Irans Regime die Kontrolle?

Von: Pierre Heumann

Eine neue Welle der Gewalt überrollt die Islamische Republik. Zugleich wird die WM in Katar zur Bühne der Regimekritiker. Welche Perspektiven die Mullahs jetzt noch haben.

Vor allem Frauen wenden sich gegen das Regime. IMAGO/ZUMA Wire

Proteste in der iranischen Stadt Karadsch

Vor allem Frauen wenden sich gegen das Regime.

Tel Aviv Demonstrationen auf den Straßen von Teheran, Aufstände in der iranischen Provinz, regimekritische Proteste und Provokationen bei der Fußball-WM in Katar: Das Mullah-Regime bekommt die Protestwelle nicht in den Griff. Nach Ansicht von Beobachtern ist der Unmut gegen das islamische System in den vergangenen Tagen noch einmal massiv gestiegen. Steht das Land am Rande einer Revolution?

In den Kurdengebieten im Westen und Nordwesten spielten sich laut Augenzeugen bürgerkriegsähnliche Szenen ab. Dort sollen Dutzende Menschen getötet, verletzt und verhaftet worden sein. Auch in anderen Landesteilen soll es Tote und zahlreiche Festnahmen gegeben haben.

In Zusammenhang mit den Unruhen sind nach Angaben der iranischen Justiz auch 40 Ausländer inhaftiert worden. Ihnen werde unter anderem Spionage vorgeworfen, sagte Justizsprecher Massud Setajeschi am Dienstag.

Demonstranten zufolge schießen Sicherheitskräfte wahllos auf Protestierende oder gar Autofahrer. In sozialen Medien werden Videos geteilt, die derartige Vorfälle zeigen sollen. Nach Angaben von Menschenrechtlern wurden seit Beginn der systemkritischen Demonstrationen Mitte September über 430 Menschen getötet und rund 17.500 Demonstranten verhaftet.

Das Regime glaube, dass der Aufstand bald vorüber sein werde, sagt ein Teheraner Politologe, der anonym bleiben will. Doch er irre sich: „Die Demonstrationen werden nicht bald abebben.“ Aber auch diejenigen würden sich irren, die mit einem baldigen Ende des Regimes rechneten. Gestützt würden die Machthaber zudem vom Mittelstand, der ein ökonomisches Interesse am Bestand der Islamischen Republik habe. Zudem hätten „die Sicherheitskräfte das Potenzial ihrer brutalen Gewalt noch nicht ausgeschöpft“.

Viele iranische Frauen verzichten mittlerweile in der Öffentlichkeit demonstrativ auf das vorgeschriebene islamische Kopftuch. dpa

Markt in Teheran

Viele iranische Frauen verzichten mittlerweile in der Öffentlichkeit demonstrativ auf das vorgeschriebene islamische Kopftuch.

Die Regierung habe dabei einen Vorteil, so der Politologe. Sie müsse auf Kritik westlicher Politiker oder von Menschenrechtsorganisationen keine Rücksicht nehmen. „Das Regime“, sagt der Teheraner Politologe, „profitiert von seiner weltweiten Isolation.“ Die Ajatollahs würden das als „Unabhängigkeit“ preisen. Und die Offiziere würden „bis zum letzten Blutstropfen“ für das Überleben des Regimes kämpfen: „Sollte die Islamische Republik implodieren, würden auch sie mit ihr untergehen, weil sie nirgendwohin gehen könnten.“

Das Schicksal Putins ist entscheidend für den Iran

Zwei Faktoren könnten das Überleben des Regimes beeinflussen. Erstens, wenn es die Militärs nicht mehr bezahlen könne, wäre es bald am Ende, meint der Politologe und sagt einschränkend: „Bis dahin ist es aber ein langer Weg.“ Auf den Meeren verkehren volle Tankschiffe des Irans, die „schwimmende Schatzkammer“ der Ajatollahs. Die beiden wichtigsten Abnehmer des iranischen Öls, China und Russland, würden das Regime mit ihren Dollar-Überweisungen am Leben erhalten.

Der zweite Faktor sei der Kriegsverlauf in der Ukraine. „Wenn Putin am Ende nicht als Sieger dasteht, naht das Ende der Islamischen Republik“, sagt der Politologe. Ökonomisch und politisch seien Moskau und Teheran eng miteinander verbunden. Eine Niederlage Putins würde überdies die iranischen Demonstranten anspornen und ermutigen. „Sollte Putin gestürzt werden“, meint der Experte, „wäre die Islamische Republik über kurz oder lang am Ende.“

Kurzfristig jedoch fokussiert sich die Aufmerksamkeit der Iraner auf die Fußball-WM in Katar, die Irankritikern eine Bühne bietet. Einige Dutzend Männer, Frauen und Kinder trugen am ersten Spieltag T-Shirts mit der Aufschrift „Zan, Zindagi, Azadi“ (Frauen, Leben, Freiheit). Das ist der Slogan der Anti-Regime-Bewegung im Iran.

Vor dem Spiel des Irans gegen England skandierten Demonstranten vor dem Khalifa-Stadion „Sag ihren Namen, Mahsa Amini“ – in Anlehnung an die 22-jährige iranische Kurdin, die vor zwei Monaten festgenommen wurde und kurz danach starb.

Die Spieler des Irans singen aus Protest die eigene Nationalhymne nicht mit. IMAGO/Matthias Koch

Iranische Fußball-Nationalmannschaft in Katar

Die Spieler des Irans singen aus Protest die eigene Nationalhymne nicht mit.

Im ganzen Land gehen seither Frauen, aber auch Männer auf die Straße. Sie trotzen den Sicherheitskräften, die die Protestwelle mit Gewalt niederschlagen wollen.

Kritisch äußerte sich auch der Kapitän der iranischen Mannschaft, Ehsan Hajsafi: „Die Bedingungen in unserem Land sind nicht gut“, sagte er. Das Volk sei „nicht glücklich“. Hajsafi, einer der prominentesten iranischen Kicker, ist bei AEK Athen unter Vertrag. Ob er nach dieser öffentlich vorgetragenen Kritik am Regime in den Iran zurückkehren kann, ist nicht klar.

Dass in Katar, einem der wenigen arabischen Länder mit normalen Beziehungen zu Teheran, auch das Medienunternehmen Al Dschasira regimekritische Kommentare an prominenter Stelle bringt, zeigt, wie weit der Protest auch in der Region geht.

„Meine Leute im Iran stehen unter großem Druck und werden vom Regime umgebracht, deshalb wollen wir diese Gelegenheit nutzen, um unsere Stimme für sie zu erheben“, wird Mahmoud Izadi zitiert, einer der Organisatoren des Protests. „Die Leute, die für den Iran tanzen und jubeln, wurden vom Regime hierhergeschickt, um ein positives Bild vom Iran zu zeichnen“, so Izadi. Er fügt hinzu, dass er nicht da sei, um die Mannschaft zu unterstützen, „weil das Regime unser Volk nicht unterstützt“.

Elina, 32-jährige Managerin einer E-Commerce-Firma in Teheran, gibt sich siegessicher: „Es gibt keinen Weg zurück“, sagt sie dem Handelsblatt am Telefon. Seit Jahrzehnten würden Frauen im Iran unterdrückt – „jetzt kämpfen wir für unsere Rechte“.

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