Der Supreme Court macht den Weg für schärfere Abtreibungsgesetze frei. Nun können die 50 Bundesstaaten selbst entscheiden – mehr als zehn Staaten verbieten Abtreibung.
Reaktionen nach dem Urteil des Supreme Courts
Abtreibungsgegnerinnen in Washington feiern das Urteil.
Bild: AP
New York, Washington An dem Tag, an dem der Oberste Gerichtshof der USA das bundesweite Recht auf Abtreibung kippte, ist die Spaltung der Nation auch vor dem Supreme Court sichtbar: Die weitläufige Freitreppe des Gerichtsgebäudes mit Marmorsäulen und einem Dreiecksgiebel, auf der sonst die Touristen verschnaufen, ist mit einem Gitterzaun und Polizei abgesperrt.
Nur Minuten nach der Verkündung ist der Platz vor dem Supreme Court direkt gegenüber dem Kapitol brechend voll, mit Gegnern und Befürwortern der Entscheidung. „Yes we won! Yes we won!“, schallt es auf der Seite der Abtreibungsgegner, die einen historischen Sieg für sich verbuchen können. Seifenblasen schweben empor, die Bässe von Musikverstärkern lassen den Boden vibrieren. „Anti Abortion is the future“ steht auf Plakaten, Pro Life is pro Woman“ oder „A Moment in History“: illustriert mit Graphen eines Herzschlags und Abdrücken von Babyfüßen.
Auf der anderen Seite von den Abtreibungsbefürwortern herrscht Enttäuschung, Entsetzen, Resignation. „Es ist einfach nur verrückt“, sagt Jane Kabbott aus Virginia. Als sie vom Urteil erfuhr, sei sie sofort ins Auto gestiegen und zum Supreme Court gefahren. Sie sei in ihren 70ern und habe fünf Enkelkinder, allesamt Mädchen. „Was soll ich ihnen erzählen, in was für einem Land sie aufwachsen?“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Die Rechte, für die meine Generation gekämpft hat, werden ihnen jetzt wieder genommen! Eine Schande.“
Das Oberste Gericht der USA hat am Freitag das bundesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Sechs der neun Richter stimmten für diese Entscheidung, wie der Supreme Court am Freitag mitteilte. Das Ergebnis hatte sich bereits abgezeichnet, nachdem das Magazin „Politico“ Anfang Mai einen Urteilsentwurf veröffentlicht hatte.
Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts wird ein historisches Urteil aus dem Jahr 1973 aufgehoben, das vor einem knappen halben Jahrhundert Schwangerschaftsabbrüche legalisierte. Das berühmte „Roe vs. Wade“-Urteil hatte damals festgelegt, dass die Bundesstaaten Abtreibung grundsätzlich erlauben müssen. Deshalb gibt es heute mindestens eine Abtreibungsklinik pro Bundesstaat. Je nach Bundesstaat waren Abtreibungen bisher bis zur zwölften oder auch bis zur 24. Schwangerschaftswoche erlaubt.
In dem jüngsten Urteil ging es eigentlich lediglich um ein Gesetz in Mississippi, das eine Abtreibung – ähnlich wie in Deutschland – nach der 15. Woche verbietet. Doch die Supreme-Court-Richter beschränkten sich bei ihrer Betrachtung nicht auf dieses einzelne Gesetz, sondern stellten das Urteil „Roe vs. Wade“ grundsätzlich infrage. Sie argumentieren, dass die Verfassung nicht explizit von Abtreibung spricht und dass das Verfassungsgericht deshalb auch nicht dafür zuständig sei.
US-Präsident Joe Biden kritisierte das Urteil in einer eigens einberufenen Fernsehansprache. „Es ist meiner Ansicht nach die Verwirklichung einer extremen Ideologie und ein tragischer Fehler des Obersten Gerichtshofs“. Er bezeichnete die Entscheidung also als „tragischen Fehler“.
Biden rief die Amerikaner auf, bei den Zwischenwahlen im November Stellung zu der Entscheidung zu beziehen. „Roe steht auf dem Wahlzettel“, sagte er. Tatsächlich könnte der Kongress ein Gesetz erlassen, das die Abtreibung im ganzen Land regelt, was in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschehen ist.
Das Urteil zur Abtreibung kommt nur einen Tag nachdem der Supreme Court ein seit einem Jahrhundert bestehendes Gesetz zu Waffenkontrollen im Bundesstaat New York gekippt hatte und das Recht auf das Tragen von Schusswaffen damit ausweitete. Am Dienstag hatte das Verfassungsgericht außerdem entschieden, dass im Bundesstaat Maine öffentliche Gelder auch für religiöse Schulen genutzt werden dürfen.
Die Urteile zeigen, wie die Ernennung von sehr konservativen Richtern unter dem US-Präsidenten Donald Trump nun die Rechtsprechung der USA beeinflusst. Trump hatte drei der neun Richter auf Lebenszeit ernannt: Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett.
Reaktionen nach dem Urteil des Supreme Courts
Befürworterinnen des Abtreibungsrechts brechen in Tränen aus.
Bild: Bloomberg
Mit dem neuen Urteil des Obersten Gerichts können in Zukunft die 50 Bundesstaaten je für ihr Gebiet über ein Recht auf Abtreibung entscheiden. Mehrere von ihnen haben bereits Gesetze erlassen, die nach dem nun verkündeten Wegfall der bundesstaatlichen Regelung die Abtreibung stark einschränken. Ein Gesetzentwurf der Demokraten für ein bundesweites Recht auf Abtreibung war Mitte Mai im Senat gescheitert.
Am Samstag hatten bereits mehr als zehn Staaten Abtreibung de facto verboten. Weitere fünf Staaten werden bald dank bereits vorbereiteter Gesetze folgen. Dazu gehören Mississippi, Tennessee und Texas.
Im Netz tauschen Frauen Tipps aus, wie sie eine elektronische Überwachung über Fruchtbarkeit oder Ortung verhindern können. Vier demokratische US-Kongressmitglieder haben bereits eine Untersuchung gegen die Unternehmen Apple und Google wegen der Verwendung von Handynutzerdaten beantragt.
Bereits in den vergangenen Wochen hatten sich Kliniken und Organisationen auf das anstehende Urteil des Supreme Courts vorbereitet. Vor allem im Süden des Landes sind nun einige Abtreibungskliniken gezwungen zu schließen. Im Nordosten und an der Westküste bereiten sich die Kliniken dagegen auf einen großen Ansturm vor.
Auch viele Unternehmen haben bereits reagiert und wollen ihre Mitarbeiterinnen unterstützen. Unter anderem haben JP Morgan, Disney, Netflix, Pinterest, Citi , Lyft und Salesforce bekannt gegeben, Mitarbeiterinnen finanziell zu unterstützen, wenn sie in einen anderen Staat reisen müssen, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Juristen mahnen jedoch, dass einzelne Bundesstaaten auch diese Hilfen unter Strafe stellen könnten.
Demokratin Nancy Pelosi
Die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses bei einem Statement nach dem Urteil.
Bild: AP
Die New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James nannte das Urteil „boshaft, gefährlich und einen vorsätzlichen Angriff auf unsere grundsätzlichste Freiheit als Mensch“. Gleichzeitig mahnte sie: „Wir werden nicht in die unmenschliche und restriktive Pre-Roe-Ära zurückfallen. Egal, was die Lage auf nationaler Ebene ist, wird New York stets ein sicherer Hafen für alle bleiben, die eine Abtreibung suchen.“
Der Bundesstaatsanwalt von Texas, Ken Paxton, dagegen gab seinen Mitarbeitern am Freitag Mittag frei, um „das Leben zu feiern und den Schutz der Ungeborenen“.
Das zeigt: Auch bei den Generalstaatsanwälten der Bundesstaaten sind die Ansichten so gegensätzlich wie bei den Demonstranten vor dem Supreme Court.
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