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12.05.2022

12:39

Verteidigungsbündnis

„Sicherheitspolitische Zäsur“ – Finnlands Staatsspitze für Nato-Beitritt

Von: Helmut Steuer

Der russische Angriffskrieg hat die Sicherheitslage in Europa verändert. Finnland läutet einen Paradigmenwechsel ein und strebt in die Nato. Der Kreml stuft den Schritt als Bedrohung ein.

Finnland drängt in die Nato. dpa

Militär

Finnland drängt in die Nato.

Stockholm, Berlin Es war ein relativ kurzes Statement und doch von historischer Bedeutung: Um 10 Uhr Ortszeit erklärten der finnische Präsident Sauli Niinistö und Regierungschefin Sanna Marin in einer gemeinsamen Erklärung, dass Finnland der Nato „unverzüglich“ beitreten sollte.

„Eine Mitgliedschaft in der Nato würde Finnlands Sicherheit stärken. Als Nato-Mitglied würde Finnland auch das gesamte Verteidigungsbündnis stärken“, heißt es in der kurzen Stellungnahme von Marin und Niinistö. „Finnland muss unverzüglich einen Beitrittsantrag stellen. Wir hoffen, dass die nationalen Maßnahmen, die für diesen Beschluss noch erforderlich sind, in den kommenden Tagen ohne Verzug ergriffen werden.“

Das Pro-Nato-Votum kam nicht überraschend. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar hat sich in Finnland die Haltung zu einer Nato-Mitgliedschaft dramatisch verändert. Die Furcht, Russland könnte nach seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine weitere Länder attackieren, hat zu einem radikalen Umdenken geführt. Finnland teilt sich eine 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland und fühlt sich deshalb besonders bedroht.

Nach Jahrzehnten der Bündnisfreiheit sprachen sich zuletzt knapp 80 Prozent der Bevölkerung für einen Beitritt zum nordatlantischen Verteidigungsbündnis aus. Auch innerhalb der von der Sozialdemokratin Marin geführten Koalitionsregierung sind die Befürworter eines Nato-Beitritts in der klaren Mehrheit. Das, was bis vor Kurzem undenkbar war, wird nun Wirklichkeit. Politologen wie Charly Salonius-Pasternak sprechen von der „größten sicherheitspolitischen Zäsur seit Jahrzehnten“.

Mit der Stellungnahme der Regierungschefin und des in außenpolitischen Fragen sehr wichtigen Präsidenten hat Finnland vorgelegt. Am Sonntag will auch Schweden seine Haltung gegenüber einem Nato-Beitritt bekannt geben.

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Das Land steht nach Niinistös und Marins Erklärung gehörig unter Zugzwang. Finnland ist Schwedens wichtigster Sicherheitspartner, die weiteren nordischen Staaten Dänemark, Norwegen und Island sind schon seit der Nato-Gründung 1949 Mitglieder des Bündnisses. Bei einem Nein zur Nato wäre Schweden somit in Nordeuropa isoliert, ein ebenfalls positiver Bescheid für einen Nato-Antrag gilt damit als wahrscheinlich.

Dazu wird an diesem Freitag eine Sicherheitsanalyse erwartet, auf der ein schwedischer Beschluss letztlich fußen wird. Am Sonntag verkünden die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Magdalena Andersson ihre Nato-Position. Schon Anfang nächster Woche könnte die Nato somit zweimal Post bekommen – einmal aus Helsinki und einmal aus Stockholm.

Russische Drohungen schrecken Finnland nicht ab

Russland hatte bei einer Pro-Nato-Entscheidung beiden Ländern mit „schwerwiegenden militärischen und politischen Folgen“ gedroht. Die Stationierung von Atomwaffen in der Ostsee-Exklave Kaliningrad, nur 350 Kilometer von der schwedischen Insel Gotland entfernt, wird in Helsinki und Stockholm als Drohung wahrgenommen. Die Spannungen hatten in der Region zuletzt zugenommen: In den vergangenen Wochen kam es zu mehreren Verletzungen des finnischen und schwedischen Luftraums durch russische Militärmaschinen, zudem führten die russischen Streitkräfte in der Exklave Kaliningrad eine Übung durch, bei der ein Angriff mit Atomraketen simuliert wurde.

Die finnische Ministerpräsidentin und der finnische Präsident sprechen sich für einen Nato-Beitritt aus. imago images/Lehtikuva

Sanna Marin und Sauli Niinistö (Archivbild)

Die finnische Ministerpräsidentin und der finnische Präsident sprechen sich für einen Nato-Beitritt aus.

Eine Ausweitung des westlichen Militärbündnisses werde Europa und die Welt nicht stabiler machen, sagte der Sprecher des russischen Präsidialamtes, Dmitri Peskow. Ein Nato-Beitritt Finnlands sei „eine radikale Änderung der Außenpolitik des Landes“. Russland werde gezwungen sein, „sowohl militärisch-technische als auch andere Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um wachsende Bedrohungen für seine nationale Sicherheit zu stoppen.“

Westliche Militärstrategen halten es aber für unwahrscheinlich, dass ein Nato-Beitritt der beiden skandinavischen Länder Moskau zu einer groß angelegten Intervention veranlassen wird. Für durchaus denkbar wird es in der Nato jedoch gehalten, dass der Kreml Cyberangriffe gegen Ziele in Finnland startet oder versucht, mit verstärkten Aktivitäten der Luftstreitkräfte für Beunruhigung in der Bevölkerung zu sorgen.

Sorgen bereitet in Finnland und Schweden dennoch die Übergangsphase zwischen einem Nato-Beitrittsgesuch und der tatsächlichen Aufnahme in das Verteidigungsbündnis. Der Nato-Paragraf 5, der einen Angriff gegen ein Mitgliedsland als Angriff auf alle Vertragspartner definiert und somit den Bündnisfall auslöst, ist in dieser Übergangszeit noch nicht wirksam.

Deshalb haben sich Finnland und Schweden in den vergangenen Wochen Sicherheitsgarantien unter anderem von den USA geben lassen. Zuletzt war am Mittwoch der britische Premier Boris Johnson in Stockholm und Helsinki und hat militärische Unterstützung im Fall eines Angriffs auf die beiden nordeuropäischen Länder zugesichert.

Wie lange diese Übergangsphase dauern wird, ist noch nicht absehbar. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat beiden Ländern eine „zügige Aufnahme“ zugesichert. Aus seinem Umfeld war zu hören, dass es sich nur um wenige Wochen handeln könnte.

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„Sollte Finnland sich entscheiden, einen Antrag zu stellen, würde es in der Nato herzlich willkommen geheißen, und der Beitrittsprozess würde reibungslos und schnell verlaufen“, sagte Stoltenberg am Donnerstag. „Finnland ist einer der engsten Partner der Nato, eine reife Demokratie, ein Mitglied der Europäischen Union und ein wichtiger Beitrag zur euro-atlantischen Sicherheit.“

Allerdings müssen alle 30 Nato-Länder den Aufnahmeanträgen zustimmen. Deshalb ist der Zeitrahmen noch unklar. In Finnland und vermutlich auch in Schweden werden Anfang kommender Woche die parlamentarischen Weichen für den formellen Aufnahmeantrag gestellt.

Finnland und Schweden wären für die Nato eine willkommene Verstärkung

Beide Länder haben in den vergangenen Jahren bereits an vielen Nato-Manövern teilgenommen. Außerdem beteiligten sie sich an Nato-geführten Einsätzen in Afghanistan und auf dem Balkan. Zudem haben sie auch die Beschaffung von militärischer Ausrüstung mit der Nato koordiniert. Finnland hat erst kurz vor Weihnachten für zehn Milliarden Euro 64 F-35-Kampfjets des amerikanischen Rüstungsunternehmens Lockheed Martin bestellt, während Schweden US-amerikanische Patriot-Flugabwehrraketen gekauft hat.

Für die Nato wäre der Beitritt der beiden Länder eine willkommene Verstärkung. Besonders Finnland würde die Nato-Truppenstärke mit 23.000 Berufssoldaten und 280.000 Wehrpflichtigen deutlich erhöhen.

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Zudem verfügt das Land über 870.000 Reservisten. Schweden hat bedeutend weniger aktive Streitkräfte, kann dafür aber mit einem „unsinkbaren Flugzeugträger“ aufwarten. So wird humorvoll die größte Insel in der Ostsee, Gotland, genannt.

Nur rund 300 Kilometer sind es von der Insel bis zur lettischen Hauptstadt Riga. Gotland hat deshalb eine große strategische Bedeutung für die Kontrolle der Ostsee und einer eventuellen Verteidigung der baltischen Länder.

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Der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden wird das Verteidigungsbündnis verändern. Minna Alander, Nordeuropa-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht eine teilweise Neuausrichtung der Nato: „Der Beitritt von Finnland und Schweden könnte für die Nato eine Fokusverschiebung hin zur Ostseeregion bedeuten. Immerhin sind dann acht von 32 Mitgliedern des Bündnisses Ostseeanrainer.“

Dänemark begrüßt Finnlands Beitrittswunsch

Dänemark begrüßte die Positionierung der politischen Führung Finnlands zu einem raschen Nato-Beitritt. „Dänemark wird Finnland natürlich herzlich willkommen heißen in der Nato“, schrieb Regierungschefin Mette Frederiksen am Donnerstag auf Twitter. Ein finnischer Beitritt werde die Nato und die gemeinsame Sicherheit stärken. Dänemark werde alles für einen zügigen Aufnahmeprozess tun, wenn der formelle Beitrittsantrag eingereicht sei.

Bei einem Besuch von Marin und der schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson auf der Klausurtagung des Bundeskabinetts in Meseberg bei Berlin hatte zuletzt auch Bundeskanzler Olaf Scholz die deutsche Unterstützung für einen Nato-Beitritt der Länder zugesagt.
Mitarbeit: Teresa Stiens

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