Die Linken Francia Márquez und Gustavo Petro führen in den Umfragen. Vor allem Aktivistin Márquez elektrisiert die Menschen – und könnte Vizepräsidentin werden.
Linke Kandidaten für Kolumbien
Das Duo führt vor den Präsidentschaftswahlen am Sonntag angeblich in allen Umfragen komfortabel.
Bild: Reuters
Santander de Quilichao Ein Samstag Mitte Mai, die schwüle Mittagshitze steht schwer über dem Marktplatz von Santander de Quilichao. In der Kleinstadt im Departement Cauca im Südwesten Kolumbiens warten 3000 Menschen auf Francia Márquez. Es sind vor allem Afrokolumbianer, mehrheitlich Frauen.
Die linke Kandidatin für das Vizepräsidentenamt ist für 13 Uhr angekündigt, lässt aber wie immer in diesem Wahlkampf auf sich warten. Márquez’ Anhänger decken sich derweil mit Mützen und T-Shirts der Kandidatin ein. Musik spielt, die Menschen tanzen, machen Selfies und fordern in Sprechchören den Auftritt von Francia Márquez.
Die Afrokolumbianerin, Umweltaktivistin und Vorkämpferin für Frauen- und Minderheitenrechte ist in jeder Hinsicht der Aufsteiger und Aufreger dieser ungewöhnlichen Präsidentenwahl. So eine „woke“, moderne Kandidatin hatte Kolumbien noch nie. Márquez rüttelt an den Grundfesten des Landes, an dessen Spitze sich über 100 Jahre Vertreter der konservativen Eliten abwechseln. Und nun kommt die 40-jährige frühere Hausangestellte und mischt die Politik auf.
Sie gibt den „Nadies“, den „Niemands“, Stimme und Gesicht. Den Millionen marginalisierten Kolumbianerinnen und Kolumbianern, die in Armut und Unsichtbarkeit leben, wie auch Márquez selbst den Großteil ihres Lebens. „Sie steht wie kein anderer der Bewerber für den Wandel, den die Menschen so dringend herbeisehnen“, sagt León Valencia, Direktor der „Stiftung für Frieden und Aussöhnung“ (Pares).
Als Márquez drei Stunden später in einem strahlend gelben Kleid endlich aus dem gepanzerten SUV steigt, schützen sie Polizisten mit schusssicheren Schilden. „Es lebe Francia Márquez“, ruft ihr das Publikum in Quilichao zu.
Ihre weiche Stimme will nicht so recht passen zu den harten Realitäten des Landes, die sie anprangert. Sie spricht vom von der rechten Regierung „in Stücke gerissenen“ Friedensprozess mit der Linksguerilla FARC, der Armut der Menschen gerade hier im Departement Cauca, den hungernden Kindern und vor allem dem „strukturellen Rassismus“, dessen Opfer auch sie wurde. Márquez’ Sprache ist frei von Floskeln, hat nichts Gespreiztes: „Wir werden die historische Ausgrenzung der schwarzen Minderheit und der Indigenen beenden, vor allem in den vom jahrzehntelangen Bürgerkrieg gezeichneten Gebieten“.
Márquez ist eine große Herausforderung für die politische Klasse. „Ich habe nicht darum gebeten, in die Politik zu gehen. Aber die Politik hat sich mit mir angelegt und jetzt legen wir uns mit ihr an“, sagt sie unter dem Jubel der Menschen in Quilichao und reckt wie so oft die linke Faust in die Höhe. Solche Sätze sind es, vor denen die Eliten im fernen Bogotá bisweilen zittern. Sie fürchten, dass sie und der mit ihr kandidierende linke Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro die viertgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas auch ökonomisch auf links ziehen wollen.
Es heißt, das Duo, das in allen Umfragen komfortabel führt, wolle die Ölförderung stoppen, die Wirtschaft gängeln, Unternehmen enteignen. Nichts davon ist richtig. Petro will lediglich Umweltschutz und Wirtschaftswachstum in Einklang bringen.
Márquez wuchs in Suárez auf, einem Dorf, keine 50 Kilometer von Santander de Quilichao entfernt. Ihr Auftritt hier ist also eine Art Heimspiel. Weil die Eltern den ganzen Tag arbeiteten, zogen die Großeltern sie auf, sie suchte schon als Kind nach Gold im Fluss, lernte spät lesen und schreiben. Mit 16 wurde sie schwanger, zog diesen und später einen zweiten Sohn allein groß. Márquez engagierte sich als Aktivistin in der Gemeinde, kämpfte gegen illegalen Bergbau, legte sich mit multinationalen Firmen und den bewaffneten Gruppen an, die um die wertvollen Ressourcen konkurrieren. Márquez wurde bedroht, musste fliehen und konnte Jahre nicht zurück nach Suárez.
Francia Márquez
Die Afrokolumbianerin, Umweltaktivistin und Vorkämpferin für Frauen- und Minderheitenrechte ist der Aufsteiger und Aufreger dieser Präsidentenwahl.
Bild: action press
Ihr Aufstieg ist nicht nur deshalb spektakulär, weil sie schwarz ist in einem Land, in dem Menschen dieser Hautfarbe oft rassistisch beleidigt und behandelt werden. Sondern auch deshalb, weil sie aus einfachen Verhältnissen in einem Land stammt, in dem die Herkunft den Platz in der Gesellschaft bestimmt. Aber heute ist Márquez das Symbol für ein Kolumbien, das anders aussieht, anders spricht, eine andere Herkunft hat und dennoch an die Türen der Macht klopft.
Kolumbien ist eine der stabilsten Volkswirtschaften Lateinamerikas. Das Wachstum betrug vergangenes Jahr mehr als zehn Prozent. Angesichts eines komplexen Szenarios sagen die Prognosen für 2022 ein halb so großes Wachstum voraus, was noch immer doppelt so hoch wäre wie die Prognosen für die restliche Region. Steigende Preise für Rohstoffe wie Öl, Kohle, Gold und Nickel könnten die Exporteinnahmen Kolumbiens dieses Jahr um bis zu zehn Milliarden Dollar erhöhen.
Diese Erfolge stehen einer Informalität von 60 Prozent der Wirtschaft und einer offenen Arbeitslosigkeit von zwölf Prozent gegenüber. Knapp 40 Prozent der 51 Millionen Kolumbianer leben in Armut. In Südamerika ist nur in Brasilien die Ungleichheit größer. Dabei sind schwarze, indigene und ländliche Gebiete am weitesten abgehängt. In der Folge ist die soziale Unzufriedenheit im Land enorm hoch.
Und so ist Márquez’ Aufstieg untrennbar mit den sozialen Protesten verbunden, die Kolumbien vor genau einem Jahr erschütterten. Damals gingen Hunderttausende vor allem junge Menschen auf die Straßen und forderten ein gerechteres Land, mehr Möglichkeiten und bezahlbare Bildung. Und vor allem lehnten die Protestierer die politische Klasse ab. Márquez war damals die einzige Politikerin, mit der die jungen Kolumbianerinnen und Kolumbianer redeten.
Bei den Vorwahlen für das Präsidentenamt holte Márquez Mitte März fast 800.000 Stimmen und damit landesweit das drittbeste Ergebnis. Innerhalb des breiten Linksbündnisses „Pacto Histórico“ schnitt nur Gustavo Petro besser ab. Und so konnte er gar nicht anders, als sie zu seiner Vizekandidatin zu berufen. Auch wenn beide keine tiefe Freundschaft verbindet, bilden sie das spannendste Bewerberduo, das Kolumbien in Jahrzehnten gesehen hat.
„Mit Petro und Márquez kommt Kolumbien endlich in der Modernität an“, sagt die Analystin María Teresa Ronderos. In einem Land, in dem die Kandidaten Jahrzehnte nur über Krieg und Frieden, über die Guerillas FARC und ELN, über Paramilitärs und Drogenhandel diskutierten, stehen Themen wie Umweltzerstörung, Klimawandel, Gender und die historische Benachteiligung von Indigenen und Schwarzen plötzlich im Zentrum des Wahlkampfes. „Es ist die erste Wahl mit völlig neuen Themen“, unterstreicht Ronderos.
Seit Ende März reisen Petro und Márquez im Rekordtempo durchs Land, treten meist getrennt und selten gemeinsam auf und werben für dieses „neue, gerechtere, andere Kolumbien“. Vor allem die Gebiete im Norden aber meiden beide Bewerber wegen Morddrohungen ultrarechter bewaffneter Gruppen.
Erstmals habe die Linke eine reale Chance, an die Macht zu kommen, sagt Yann Bassett, Politologe von der Universität del Rosario in Bogotá. „In gewisser Weise kehrt demokratische Normalität nun auch in Kolumbien ein“. Der frühere Bürgermeister von Medellín, Federico Gutiérrez, hinter dem sich alle konservativen und ultrarechten Kräfte sammeln, liegt abgeschlagen auf dem zweiten Platz.
Wenn es für das Duo Petro/Márquez am Sonntag nicht für 50 Prozent und einen Triumph in der ersten Runde reicht, dann gewinnt das linke Gespann laut Umfragen aber die Stichwahl am 19. Juni. Dann wäre Francia Márquez, die sich ihr Jurastudium als Hausangestellte für weiße Familien verdiente, von ganz unten (fast) ganz oben angekommen und kein „Niemand“ mehr. Schon jetzt wird sie übrigens in der aktuellen „Forbes“-Liste der 50 „mächtigsten Frauen Kolumbiens“ auf Platz 18 geführt. Platz eins belegt Marta Lucia Ramírez, die aktuelle Vizepräsidentin.
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