Die EU-Kommission veröffentlicht heute eine Erklärung, wie sie agrarpolitisch mit der drohenden globalen Hungersnot umgehen will. Ihre Umweltziele legt sie erst einmal auf Eis.
Weizenernte in Russland
Nach Ansicht von Beobachtern hat Russland das Potenzial, die Welt über die Ernährungsfrage zu destabilisieren.
Bild: dpa
Brüssel Es ist ein weiteres großes Drama, das sich in der Weltpolitik gerade abzeichnet: Da die Ukraine, einer der größten Weizenexporteure der Welt, aufgrund des russischen Angriffskriegs zahlreiche Länder nicht mehr beliefern kann, droht eine Nahrungsmittelknappheit. Das betrifft vor allem die fragilen Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas.
Der Libanon beispielsweise bezieht 60 Prozent seines Weizenbedarfs aus der Ukraine. Da bei der großen Explosion im Beiruter Hafen im Jahr 2020 das Weizenlager zerstört wurde, kann das Land nur noch Weizen für den Bedarf eines Monats lagern – und ist damit auf kontinuierliche Lieferungen angewiesen.
Nach Ansicht von Beobachtern hat Russland das Potenzial, die Welt über die Ernährungsfrage zu destabilisieren. Über die ukrainischen Häfen verlassen 80 Prozent der Getreideexporte das Land – bombardiert Russland, wie derzeit, die Häfen, wirkt sich das entsprechend auf die Exporte aus. Zudem zerstört Russland nach ukrainischen Angaben Lagerhäuser, entführt mit Getreide beladene Schiffe, vermint Agrarflächen. Die Angaben lassen sich zum Teil nur schwer verifizieren, sind aber nach Einschätzung westlicher Experten glaubhaft
Der ukrainische Agrarminister Roman Leshchenko sagte am Dienstag vor dem Agrarausschuss des Europaparlaments, wo er zugeschaltet war: „Wir haben keine Möglichkeit, unsere Aussaat wie normal vorzunehmen.“ Die Ukraine gebe ihr Bestes. „Wir versuchen auszuliefern, was wir ausliefern können.“ Viel wird das nicht sein: Die meisten Landwirte kämpfen bei der Armee und können deshalb die Felder nicht bestellen. Auch logistisch sind Exporte kaum möglich: Der Luftraum ist geschlossen.
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Der Schienengüterverkehr wird für das Militär benötigt, außerdem um flüchtende Ukrainer außer Landes zu bringen. Und nicht zuletzt braucht das Land die Nahrungsmittel auch für sich selbst. Leshchenko sagte: „Die Ukraine hat keine Wahl. Sie muss die Ausfuhren einschränken, um ihr Überleben zu sichern.“
Neben dem ukrainischen Lieferausfall sorgt Russland zusätzlich selbst für eine Lebensmittelknappheit in vielen Ländern: Moskau kündigte Mitte März an, die Ausfuhr von Weizen, Gerste, Roggen und anderem Getreide einzuschränken.
Ein Problem für die Türkei, Ägypten und zahlreiche Länder des mittleren und südlichen Afrikas, die mehr als die Hälfte, teils sogar 80 Prozent ihrer Weizenimporte aus Russland beziehen. Es drohen Unruhen und weitere Flüchtlingsströme.
Zudem besteht die Gefahr, dass viele Regierungen im asiatischen oder afrikanischen Raum von Moskau politisch erpressbar werden, da sie bei einem russischen Getreideexportstopp eine Hungersnot im eigenen Land befürchten müssen.
Weizenernte 2021 in der Ukraine
Die Ukraine ist einer der größten Weizenexporteure der Welt.
Bild: imago images/ITAR-TASS
CDU-Politiker Norbert Lins, Vorsitzender des Agrarausschusses des Europaparlaments, sagt: „Putin ist in der Lage, den Hunger anderer Staaten auszunutzen und als Waffe einzusetzen.“ Politisch gezielt herbeigeführte Hungersnöte waren schon immer eine Kriegswaffe. Die Vereinten Nationen erklärten sie im Jahr 2018 in einer Resolution zu einem Kriegsverbrechen.
Bislang waren auf dem Weltmarkt die Nachfrage und das Angebot von Getreideprodukten etwa ausgeglichen, in diesem Jahr werden 25 Millionen Tonnen fehlen. Die EU will sich nun bemühen, die globale Nahrungslücke so gut wie möglich zu schließen.
Dies sei „aus geostrategischer Sicht von grundlegender Bedeutung“, schreibt die EU-Kommission in einer Mitteilung über Lebensmittelsicherheit, die sie an diesem Mittwoch vorstellt. Dem Handelsblatt liegt ein geleakter Entwurf des politischen Papiers vor.
Die EU ist ein Nettoexporteur von Weizen. Um die Produktion noch weiter zu erhöhen, will die Kommission nun ein Hilfspaket für Landwirte in Höhe von 500 Millionen Euro aufsetzen.
„Wir haben auch eine globale Verantwortung“, sagt diesbezüglich auch Parlamentarier Lins. „Europa könnte den Importbedarf von drei Ländern des Nahen Ostens sicherstellen.“
Allerdings: Eigentlich wollte sich die EU im Zuge des Klima- und Umweltpakets Green Deal auf eine weniger intensive Landwirtschaft umstellen. Dafür sollte der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden in den nächsten Jahren um die Hälfte gesenkt werden, außerdem aus Artenschutzgründen vermehrt Agrarflächen brachgelegt werden.
Die Folge: In der EU würden weniger Lebensmittel produziert werden. Studien sprechen von einem Minus von 13 Prozent. Entsprechende Gesetzesvorschläge wollte die Kommission ursprünglich an diesem Mittwoch vorlegen, hat dieses Vorhaben nun aber auf unbestimmte Zeit verschoben.
Zudem erlässt die Kommission eine Verordnung, wonach die Mitgliedstaaten vorübergehend von bestimmten Umweltzielen abweichen dürfen. Sie können ihren Landwirten zum Beispiel erlauben, ihre Brachflächen beliebig zu kultivieren und dafür dennoch entsprechende Umweltgelder auszahlen.
Bei Grünen-Politikern kommt dieses Vorgehen nicht gut an. „Dass bereits heute zehn Prozent der Weltbevölkerung hungern, hat zumeist strukturelle Gründe, wie Armut, Verteilungsprobleme, fehlender Zugang zu Land“, schreiben die Agrarpolitiker Martin Häusling und Renate Künast in einem Papier zu den Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die Lebensmittelversorgung. Diese Probleme würden nicht durch ein Hochfahren der Produktion in Europa gelöst.
Stattdessen sei es sinnvoller, den Konsum von tierischen Lebensmitteln einzuschränken, sodass weniger Agrarfläche für Futtermittel benötigt werden würde. Auch der Getreideanbau für Biokraftstoffe müsse auf den Prüfstand gestellt werden. „70 Prozent der auf landwirtschaftlichen Nutzflächen in Europa erzeugten Rohstoffe landen im Tank oder Trog“, schreiben Häusling und Künast.
Der ukrainische Agrarminister Leshchenko hatte indes ebenfalls einen Vorschlag an die EU-Politiker: Er bat sie darum, grüne Korridore einzurichten, über die Nahrungsmittel von der Ukraine unbürokratisch in Richtung Afrika transportiert werden sollen. „Das ist auch in Ihrem Interesse“, warb er und sagte dann ganz direkt: „Sie bekommen dann auch weniger Flüchtlinge.“
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