Unternehmen aus armen Ländern sollen künftig Corona-Impfstoffe herstellen dürfen – ohne Zustimmung von Patentinhabern wie Biontech, Moderna und Pfizer.
Genf Die Delegationschefs der Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation haben sich am Freitagmorgen geeinigt: Geistige Eigentumsrechte auf Covid-19-Impfstoffe sollen ausgesetzt, schädliche Fischereisubventionen gestrichen werden. Außerdem will sich die Organisation angesichts drohender Hungersnöte stärker für die Ernährungssicherheit einsetzen, etwa durch Vermeidung von Exportrestriktionen für Nahrungsmittel.
Der indische Wirtschaftsminister Shri Piyush Goyal, als Vorkämpfer der armen Staaten inszeniert, sah schon am Donnerstag einen Grund „zum Feiern“. Auch die Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala gab sich begeistert: Seit Langem habe die Organisation nicht mehr so viele multilaterale Ergebnisse erzielt. „Die Ergebnisse zeigen, dass die WTO in der Tat in der Lage ist, auf die Nöte unserer Zeit zu reagieren“, sagte sie.
Doch gerade der Beschluss zu den Patenten auf Covid-19-Vakzine zeigt, dass die WTO-Mitglieder den großen Wurf nicht wagten. Vielmehr produzierten sie einen Formelkompromiss, der niemandem nutzen wird. Letztlich setzten sich die WTO-Mitglieder nach insgesamt 20 Monaten zäher Patentverhandlungen selbst unter Druck, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.
Damit wollten sie sich selbst und der Welt beweisen, dass die oft gescholtene WTO doch noch zählt. Ursprünglich hatten Indien und Südafrika im Oktober 2020 einen Antrag zu den Covid-19-Patenten eingereicht, worauf die EU, Deutschland, die USA, Großbritannien und die Schweiz zunächst zähen Widerstand leisteten.
Auch die seit mehr als einem Jahr amtierende WTO-Chefin Okonjo-Iweala trieb die Delegationen immer wieder an, „zu liefern“. Die Nigerianerin wollte tunlichst vermeiden, dass sie nach ihrem ersten WTO-Gipfel mit leeren Händen dasteht.
Konkret sollen laut WTO-Beschluss Unternehmen aus bestimmten Entwicklungsländern diejenigen Patente nutzen dürfen, die für die Herstellung und Lieferung von Covid-19-Impfstoffen erforderlich sind, und zwar „ohne die Zustimmung des Rechteinhabers“ einzuholen.
Etablierte Pharmafirmen aus Europa oder den USA müssen also auf ihre Patente vorübergehend verzichten. Unternehmen aus armen Regionen wie Afrika hingegen können eine Vakzin-Massenproduktion ankurbeln und damit die globale Kluft zwischen Nord und Süd bei den Impfstoffen schließen. Diese Regelung soll bis zu fünf Jahre gelten.
Doch das Konzept erweist sich als „unausgegoren“, wie der indische Minister Goyal währen der Verhandlungen kritisierte. Goyal, der die Gespräche immer wieder zum Stillstand gebracht hatte, räumte ein: „Impfstoffe haben bereits an Bedeutung verloren, es gibt keine Nachfrage mehr nach Impfstoffen.“
Das mag zwar übertrieben sein. Aber tatsächlich produzieren Pharmafirmen wie Biontech, Pfizer und Moderna nach Angaben des internationalen Branchenverbandes IFPMA schon weit mehr als nötig. „Sie könnten in diesem Jahr mindestens 20 Milliarden Impfdosen herstellen, während der Bedarf wahrscheinlich bei etwa sechs Milliarden liegt“, erklärte IFPMA-Generaldirektor Thomas Cueni.
Er schlägt deshalb vor, sich auf die „wirklichen Herausforderungen“ beim Zugang zu Covid-19-Impfstoffen zu konzentrieren. Es gehe um die „Beseitigung von Handelshemmnissen, die Bewältigung von Verteilungsproblemen und die Stärkung von Gesundheitssystemen“ in armen Ländern. Insgesamt gibt sich Cueni „tief enttäuscht“ über den WTO-Beschluss, der die Innovationskräfte in den Firmen und den Forscherdrang in der Wissenschaft gefährde.
Doch auch Hilfsorganisationen äußern sich frustriert über den „faulen Kompromiss“ von Genf – selbstredend aus anderen Gründen als die Vertreter der Pharmabranche. „Für den Bereich globale Gesundheit in Zeiten einer Pandemie ist das Ergebnis besonders ernüchternd“, urteilt Nelly Grotefendt, Referentin für Handelspolitik beim Forum Umwelt und Entwicklung. „Ich hatte sehr gehofft, dass die Länder sich zu einem Präzedenzfall durchringen können, der weitreichend ist.“
>>Lesen Sie hier: Der große Zoff am Genfer See: Die WTO streitet über Impf-Patente
Die Organisationen kritisieren vor allem, dass der WTO-Beschluss Medikamente gegen Covid-19 und Diagnostika zur Erkennung der Krankheit nicht abdeckt. „Medikamente und Diagnostika aber werden eine wichtige Rolle bei den nächsten Wellen dieser Pandemie spielen – besonders im Globalen Süden“, erläutert Grotefendt.
Tatsächlich kamen die WTO-Mitglieder überein, innerhalb der nächsten sechs Monate auch über die Aussetzung der Patentrechte auf solche Arzneien und Diagnostika zu entscheiden. Doch die Antwort auf diese Frage wurde schon auf der jetzt beendeten 12. Ministerkonferenz erteilt.
Eine Ausnahmeregelung für Heilmittel und Testverfahren wird es nicht geben – der Widerstand aus den EU-Staaten, den USA, Großbritannien, der Schweiz und anderen Staaten mit starker Pharmabranche ist dafür zu groß.
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