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09.07.2021

08:45

Interview

EU-Gesundheitskommissarin: „Müssen uns auf härtere Maßnahmen vorbereiten“

Von: Christoph Herwartz, Moritz Koch

PremiumDen Kampf gegen Corona sieht Stella Kyriakides in einer entscheidenden Phase. Die Regierungen müssten der Delta-Variante mit einem höheren Impftempo begegnen.

Die EU-Gesundheitskommissarin will aufgrund der Delta-Variante an Einschränkungen des öffentlichen Lebens festhalten. imago images/Xinhua

Stella Kyriakides

Die EU-Gesundheitskommissarin will aufgrund der Delta-Variante an Einschränkungen des öffentlichen Lebens festhalten.

Brüssel Die EU-Kommission sieht die Zeit für Lockerungen in der Corona-Pandemie, wie sie derzeit in Deutschland diskutiert werden, noch nicht gekommen. „Die Delta-Variante ist ganz klar eine Bedrohung. Und wir wollen eine neue Welle um jeden Preis vermeiden“, sagte Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides dem Handelsblatt. Dazu müsse der Anstieg der Fälle hinausgezögert und die Impfkampagne beschleunigt werden.

Davon hänge ab, „wie viele Menschen ins Krankenhaus kommen oder Schlimmeres erleben müssen“, sagte Kyriakides. Das Tragen von Masken und das Abstandhalten sollten auf jeden Fall beibehalten werden. Auf weitere, härte Maßnahmen müsse man sich vorbereiten.

Das selbst gesteckte Ziel, bis Ende Juli genug Impfstoffe für die Versorgung von 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu haben, werde die EU erreichen, sagte Kyriakides. Beendet sei die Impfkampagne damit aber nicht. „Die Varianten haben die Übertragbarkeit erhöht. Darum brauchen wir nun mehr als 70 Prozent, um sicher zu sein“, sagte sie.

Die Schulen forderte Kyriakides auf, sich auf die Zeit nach dem Sommer vorzubereiten: „Wir brauchen in den Schulen Maßnahmen, die Kinder vor dem Virus schützen.“ Dazu werde es bald Empfehlungen der Seuchenschutzbehörde ECDC geben. „Wir können Kinder nicht zu Hause lassen, nur weil es keine Impfungen für sie gibt“, sagte die Kommissarin.

Kyriakides bereist derzeit EU-Länder, in denen die Impfkampagne nur langsam vorankommt. So sind in Bulgarien nur 14 und in Rumänien nur 25 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft.

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Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Frau Kyriakides, mit der Delta-Variante ist die nächste Corona-Welle da. Lässt sie sich noch stoppen?
Wir sind an einem sehr heiklen Punkt der Krise. Die Delta-Variante ist ganz klar eine Bedrohung. Und wir wollen eine neue Welle um jeden Preis vermeiden. Wir müssen impfen, impfen, impfen. So schnell wie möglich und mit zwei Dosen. Die Wissenschaftler sagen uns, dass eine vollständige Impfung noch immer einen sehr guten Schutz bietet.

Wenn es Ihre Entscheidung wäre: Würden Sie 60.000 Zuschauer in einem Stadion zulassen wie jetzt bei den EM-Spielen in Wembley?
Jeder möchte jetzt die Dinge genießen, die ihm so lange vorenthalten wurden. Und dazu gehören Reisen und Geselligkeit und auch die Teilnahme an großen Veranstaltungen wie der Fußball-Europameisterschaft. Aber wir müssen auch realistisch und vorsichtig sein in der Mitte der Pandemie. Es sind noch nicht alle immunisiert. Das Ansteckungsrisiko bei großen Events ist hoch.

Was schlagen Sie also vor?
Weiterhin sind nichtpharmazeutische Interventionen notwendig, also Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Wir haben doch gesehen, wie sich Fans rund um Fußballspiele infiziert und das Virus mit nach Hause gebracht haben. Darum rufen wir zu Vorsichtsmaßnahmen auf – auch bei der An- und Abreise und bei Treffen rund ums Spiel. Aber das ist kein EM-Virus. Es verbreitet sich überall. Wir müssen die Superspreading-Events ausfindig machen, ob bei der EM, in Diskotheken oder in Ferienlagern.

In Ihrem Heimatland Zypern gibt es derzeit die mit Abstand höchste Inzidenz in der EU. Was passiert dort?
Ich verfolge das natürlich. Die Impfkampagne ist eigentlich sehr erfolgreich, die Älteren sind geschützt. Aber die Delta-Variante verbreitet sich nun stark unter jungen Menschen, die noch nicht geimpft sind – genau so, wie wir es auch schon in Spanien und Portugal gesehen haben. In Zypern versucht man jetzt, auch Jüngere zu einer Impfung zu bewegen.

Stella Kyriakides

Die Politikerin

Stella Kyriakides studierte in den 1970er Jahren Psychologie in England und arbeitete danach lange für das Gesundheitsministerium in Zypern. Seit 2012 vertritt sie ihr Land beim Europarat in Straßburg.

Die Kommissarin

Ende 2019 berief Ursula von der Leyen Kyriakides in die EU-Kommission, wo sie für Gesundheit zuständig wurde. Kurz danach brach die Corona-Pandemie aus. Während viele Entscheidungen dazu letztlich in den Mitgliedstaaten getroffen werden, ist Kyriakides für die Impfstoffbeschaffung, die Europäische Arzneimittel-Agentur Ema und die Seuchenschutzbehörde ECDC zuständig.

Geht das schnell genug?
Das Wichtige ist jetzt, nicht nachzulassen. Durch die Impfungen müssen wir das Rennen gegen diese Variante gewinnen. Wie lange wir ein Ansteigen der Fälle verzögern und wie viele Menschen wir in der Zwischenzeit impfen, bestimmt, wie viele Patienten ins Krankenhaus kommen oder Schlimmeres erleben müssen. Es geht hierbei um die nahe Zukunft. Die einfachen Maßnahmen wie das Tragen von Masken und das Abstandhalten sollten wir auf jeden Fall beibehalten.

Sie sprechen aber nicht von härteren Maßnahmen?
Wir müssen bereit sein, gezielte Maßnahmen zu ergreifen, wo es notwendig ist. Aber wenn wir mit den Impfungen so weitermachen und uns an die noch gültigen Regeln halten, können wir die Situation hoffentlich stabil halten.

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Je mehr sich das Virus verbreitet, desto eher können Varianten auftreten, gegen die Impfungen nicht mehr helfen. Wie groß ist diese Gefahr?
Wir unterstützen die Impfstoffhersteller, und wir prüfen mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur Ema die Anpassung von Impfstoffen an neue Varianten. Wir bereiten uns also darauf vor, dass wir Booster-Impfstoffe haben, die an neue Varianten angepasst sind. Es kann gut sein, dass wir sie in Zukunft brauchen.

Ist die Herdenimmunität ein realistisches Ziel?
Die Impfkampagnen in den Mitgliedstaaten laufen sehr unterschiedlich. Wir müssen die ganze Bevölkerung erreichen.

Was ist das Problem dabei?
Unterschiedliche EU-Länder haben unterschiedliche Probleme. Darum gibt es auch keine einheitliche Lösung. Ich besuche daher so viele Mitgliedstaaten wie möglich und berate mich mit den zuständigen Ministern. Wir müssen die Kampagnen verstärken, um alle Risikogruppen und alle Pflegepersonen vollständig zu erfassen.

Wie viele Menschen müssen geimpft sein, bevor wir alle Beschränkungen aufheben können?
Wir sind zuversichtlich, dass wir bis Ende Juli genug Dosen haben, um 70 Prozent der Erwachsenenbevölkerung vollständig zu impfen. Das war immer das Ziel, beruhend auf der wissenschaftlichen Einschätzung, dass dadurch alle Bürger geschützt sind. Aber das muss nicht heißen, dass wir dann aufhören. Es heißt auch nicht, dass wir dann die Beschränkungen aufheben können. Die Varianten haben die Übertragbarkeit erhöht. Darum brauchen wir nun mehr als 70 Prozent, um sicher zu sein.

In der spanischen Provinz Katalonien steigt die Zahl der Infizierten durch die Delta-Variante stark an. imago images/ZUMA Wire

Impfzentrum in Barcelona

In der spanischen Provinz Katalonien steigt die Zahl der Infizierten durch die Delta-Variante stark an.

Sollten wir auch Kinder impfen, vielleicht auch Kinder, die jünger als zwölf Jahre sind?
Immer mehr Mitgliedstaaten beziehen Kinder in ihre Impfkampagnen ein. Das ist Sache der nationalen Regierungen und am Ende die Entscheidung von Eltern und ihren Kindern. Die anhaltende Präsenz des Virus macht die Impfungen für Kinder wünschenswert. Denn wir wollen, dass Kinder zur Schule gehen und gleichzeitig in Sicherheit leben können.

Müssen Kinder geschützt werden, solange sie nicht geimpft sind, etwa durch Distanzlernen? Oder sollte man akzeptieren, dass sie sich eines Tages infizieren?
Ich glaube, wir sollten weder das Distanzlernen akzeptieren noch die Infektion. Wir brauchen in den Schulen Maßnahmen, die Kinder vor dem Virus schützen. Wir können Kinder nicht zu Hause lassen, nur weil es keine Impfungen für sie gibt. Die Schulen müssen nach dem Sommer vorbereitet sein und entsprechende Maßnahmen vorhalten. Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) wird dazu eine Empfehlung herausgeben. Dabei geht es nicht nur um die körperliche Gesundheit, es geht auch um die mentale Gesundheit der Kinder. Sie ist ein sehr wichtiger Teil der Diskussion.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO fordert die Industrieländer auf, Impfstoff an Entwicklungsländer abzugeben, anstatt Kinder zu impfen, die ein niedriges Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus warnt vor einer „moralischen Katastrophe“. Was antworten Sie ihm?
Europa ist beim Export von Impfstoffen mit gutem Beispiel vorangegangen. Wir haben die Hälfte unserer gesamten Produktion in andere Weltregionen geliefert. Insgesamt haben wir bisher mehr als 400 Millionen Dosen in 130 Länder exportiert. Europa impft die Welt. Aber es gibt noch viel zu tun. Die globale Situation ist äußerst beunruhigend. Solidarität beim Impfen ist eine Priorität für die EU. Aber auch andere wohlhabende Länder müssen mitmachen.

Was kann die EU zusätzlich tun, um der Welt zu helfen?
Wir haben eine Regelung für die Abgabe von Impfstoffen geschaffen, die die internationale Impfstoffallianz Covax ergänzt. Diese globalen Anstrengungen müssen wir verstärken.

Eine Umfrage hat zuletzt gezeigt, dass das Vertrauen in die EU wegen der Versäumnisse bei der Impfstoffbeschaffung schweren Schaden genommen hat. Sie wurden dafür persönlich verantwortlich gemacht. Was haben Sie daraus gelernt?
In einer Gesundheitskrise, die das Leben vollkommen verändert hat, ist es verständlich, dass Kritik geübt wird. Es gab Startschwierigkeiten, aber ich glaube, dass wir bewiesen haben, dass die europäische Strategie richtig war. Sie hat gezeigt, dass die Europäer eine Menge erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten. Es war wichtig, dass die Mitgliedstaaten gleichzeitig Zugang zu sicheren Impfstoffen hatten. Jetzt blicken wir nach vorn. Ich habe vorgeschlagen, eine Gesundheitsunion zu schaffen mit einer stärkeren europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC und einer stärkeren Europäischen Arzneimittel-Agentur, um auf die nächste Krise besser vorbereitet zu sein.

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