Der Finanzminister skizziert seinen Plan für den Abbau schleichender Steuererhöhungen durch die Inflation. Doch die Koalitionspartner halten dagegen – und machen eigene Vorschläge.
Christian Lindner (l.), Olaf Scholz
Der Finanzminister will steuerlich breit entlasten – anders als sein Vorgänger aber nicht bei der Reichensteuer.
Bild: Reuters
Berlin Die Inflation schadet den Deutschen gleich doppelt. Sie müssen nicht nur höhere Preise hinnehmen, die Belastung durch die kalte Progression steigt auch noch. So werden die schleichenden Steuererhöhungen genannt, wenn eine Gehaltserhöhung durch die Inflation aufgefressen wird, aber der Arbeitnehmer durch den höheren Verdienst dennoch mehr Steuern zahlen muss.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) macht nun einen Vorschlag, die Steuertarife so zu verändern, dass es nicht mehr zu einer kalten Progression kommt. Dabei will er aber eine Gruppe auslassen. „Im Unterschied zu meinem sozialdemokratischen Vorgänger würde ich den Eckwert der Reichensteuer nicht verschieben“, sagte Lindner dem Handelsblatt.
Lindners Vorgänger, der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), hatte während seiner Amtszeit als Finanzminister beim Abbau der kalten Progression stets die Geltung des 45-prozentigen Reichensteuersatzes mit angepasst.
2018 mussten Topverdiener die 45 Prozent für den Teil ihres Einkommens zahlen, der bei mehr als 260.000 Euro lag. 2022 gelten die 45 Prozent erst ab 277.000 Euro. Lindner will die Grenze nun aber nicht weiter nach hinten schieben.
Ob er mit seinem Angebot in der Ampel durchdringen wird, ist allerdings fraglich. SPD und Grüne machen weiter gegen den Abbau der kalten Progression mobil. Sie argumentieren damit, dass auch beim Auslassen der Reichensteuer vor allem Topverdiener profitieren würden und das Geld lieber anderweitig genutzt werden sollte. „Milliarden-Steuererleichterungen, von denen Vielverdienende am meisten profitieren – das ist einfach nicht auf der Höhe der Zeit“, sagt Katharina Beck, finanzpolitische Sprecherin der Grünen, zu Lindners Vorstoß.
In absoluten Beiträgen würde der Abbau der kalten Progression tatsächlich vor allem den Gutverdienern nützen. Das zeigen Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) unter der Annahme, die Inflationsrate wird in diesem Jahr bei 7,2 Prozent liegen und würde vollständig ausgeglichen.
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Ein Single mit einem Jahreseinkommen von 25.000 Euro würde dann jährlich um 213 Euro entlastet. Bei einem Einkommen von 80.000 Euro läge das Plus bei 672 Euro. Die Inflationsrate könnte noch höher ausfallen, der Unterschied wäre dann noch größer.
Lindner hält das aber für die falsche Betrachtungsweise. „Von einer Änderung des Tarifverlaufs profitieren kleine und mittlere Einkommen relativ am stärksten“, sagt er. Bei überdurchschnittlichen Einkommen sei der Entlastungsbetrag in Euro zwar höher, aber dort sei auch die Steuerbelastung insgesamt noch mal stärker.
Die Botschaft des Finanzministers an seine Regierungskollegen ist deutlich. „Wir sollten nicht den Fehler machen, vielen Millionen Menschen einen spürbaren und dauerhaften Inflationsausgleich zu verweigern, weil man ihn ein paar wenigen missgönnt“, erklärt er.
„Die Gegner nehmen die Mitte der Gesellschaft in Geiselhaft, weil sie die IT-Spezialistin, den Herzchirurg und den Unternehmer am liebsten belasten wollen.“ Lindner bedauere den „bisweilen klassenkämpferischen Ton in der Debatte“.
Das ist auch ein Signal in Richtung Vizekanzler Robert Habeck (Grüne). Der hatte vorgeschlagen, Entlastungen für untere Einkommen durch höhere Steuern für obere Einkommen gegenzufinanzieren. Lindner hatte seine Beamten im Finanzministerium kürzlich durchrechnen lassen, ob das möglich wäre.
Die Frage war, wie stark der Spitzensteuersatz steigen müsste, wenn damit eine starke Entlastung unterer und mittlerer Einkommen durch eine deutliche Abflachung des Mittelstandsbauchs halbwegs gegenfinanziert werden sollte. Der Mittelstandsbauch beschreibt die überdurchschnittlich zunehmenden Steuersätze im mittleren Einkommensbereich. Ergebnis der Berechnungen im Ministerium: Ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 80.000 Euro müsste der Spitzensteuersatz von derzeit 42 auf 57,4 Prozent steigen.
SPD und Grünen wäre es aber ohnehin recht, die kalte Progression gar nicht anzufassen. Bundesfamilienministerin Lisa Paus plädierte am Samstag in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ dafür, „die Finger von der kalten Progression zu lassen und andere Hebel für zielgerichtete Unterstützung, wie ein höheres Kindergeld, anzusetzen“.
Denn klar ist: Christian Lindners Pläne sind teuer. Durch die hohe Inflation müsste der Ausgleich besonders groß sein. Und neben der kalten Progression will er den Grundfreibetrag erhöhen, und Steuerzahler sollen ihre Rentenbeiträge ab dem kommenden Jahr voll absetzen können.
Beim Progressionsabbau vergünstigt das Auslassen der Reichensteuer Lindners Vorschlag zwar etwas. Laut IW hätten die Kosten, wenn alle entlastet würden, bei 15 Milliarden Euro gelegen. Der Finanzminister geht nun noch von Kosten in einem hohen ein- oder niedrigen zweistelligen Milliardenbetrag aus. „Im Haushaltsentwurf 2023 habe ich für diese Maßnahme Vorsorge getroffen“, beschwichtigt Lindner.
Finanzminister Lindner (l.), Wirtschaftsminister Habeck
Streit um Entlastung von der kalten Progression.
Bild: dpa
Doch das Geld könnte an anderer Stelle für Entlastungen fehlen. „Finanzpolitisch ist schleierhaft, wie mit diesem weiteren Vorschlag in Milliardenhöhe die gewünschte Schuldenbremse eingehalten werden soll“, sagt die Grünen-Abgeordnete Beck.
Die SPD macht nun einen Gegenvorschlag in Form von Direktzahlungen. Ihr finanzpolitischer Sprecher Michael Schrodi erläutert diesen in einem Brief an die gesamte Fraktion. Das neunseitige Dokument liegt dem Handelsblatt vor.
Schrodi rechnet vor, was es bedeuten würde, wenn der Milliardenbetrag für die kalte Progression stattdessen direkt an die kleinen und mittleren Einkommen ausgezahlt würde: „Rund 90 Prozent der Bevölkerung profitieren von Direktzahlungen mehr als von einer Einkommensteuersenkung!“ Das hängt auch damit zusammen, dass auch sehr niedrige Einkommen entlastet würden, weil viele von ihnen gar keine Einkommensteuer zahlen.
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Finanzminister Christian Lindner hält diesen Vergleich allerdings für die falsche Debatte. „Beim Abbau der kalten Progression geht es nicht um Entlastung, sondern die Verhinderung von stärkerer Belastung.“
Ob er seine Koalitionspartner von dieser Sichtweise wird überzeugen können, wird der Herbst zeigen. Sobald der alle zwei Jahre erstellte Progressionsbericht der Bundesregierung vorliegt, will Lindner seinen Vorschlag auf den Weg bringen.
Erstpublikation: 08.08.2022, 04:00 Uhr
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