PremiumMehr als jedes zweite Unternehmen klagt über Personalengpässe. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer geht davon aus, dass ein Wertschöpfungspotenzial von fast 100 Milliarden Euro verloren geht.
Pflegerin im Krankenhaus
Besonders drastisch und immer stärker trifft der Personalmangel den Gesundheits- und Sozialbereich.
Bild: dpa
Berlin Mehr als jedes zweite Unternehmen in Deutschland kann nicht mehr alle offenen Stellen besetzen – und das trotz einer angespannten Wirtschaftslage. Das geht aus dem jüngsten Fachkräftereport hervor, den die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) am Donnerstag vorstellte.
„Wir gehen davon aus, dass in Deutschland rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben“, sagte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der DIHK, Achim Dercks, bei der Präsentation der Umfrage, an der knapp 22.000 Firmen teilgenommen haben. Das entspreche einem entgangenen Wertschöpfungspotenzial von fast 100 Milliarden Euro.
„Wir haben nicht nur einen steigenden Fachkräftemangel. Es fehlt in vielen Branchen generell an Arbeitskräften“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) dem Handelsblatt. Das sei für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ein „akutes Hemmnis“.
In der Industrie und im Baugewerbe sind mit jeweils 58 Prozent noch mehr Firmen von Personalengpässen betroffen als in der Gesamtwirtschaft (53 Prozent).
Von den Investitionsgüterproduzenten, den Herstellern elektrischer Ausrüstungen, den Fahrzeug- und den Maschinenbauern klagen sogar 65 Prozent und mehr über Probleme bei der Stellenbesetzung.
Im Handel hat sich die Personalsituation gegenüber dem Vorjahr dagegen leicht entspannt, im Baugewerbe sogar deutlich. Klagten im Herbst 2021 noch zwei von drei Baufirmen über Arbeitskräfteknappheit, so waren es im Herbst 2022 noch 58 Prozent. Hier dürfte eine Rolle spielen, dass die steigenden Zins- und Rohstoffkosten die Wohnungsbaukonjunktur dämpfen.
Besonders drastisch und immer stärker trifft der Personalmangel den Gesundheits- und Sozialbereich, wie das Beispiel der Paracelsus-Klinik in Bad Ems zeigt. Die will ihren Betrieb gar einstellen, weil sie unter anderem kein Personal mehr findet. „Da der Standort Bad Ems seit Längerem unter einem eklatanten Fachkräftemangel leidet, waren wir immer wieder gezwungen, einzelne Leistungsbereiche einzuschränken“, begründete Geschäftsführer Tomislav Gmajnic diese Woche die geplante Schließung, die aber auch mit den wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie zu tun hat. Ein ordnungsgemäßer Klinikbetrieb lasse sich nicht mehr gewährleisten.
Insgesamt gaben in der DIHK-Umfrage 71 Prozent der Gesundheits- und Sozialdienstleister an, unter Personalengpässen zu leiden – vier Prozentpunkte mehr als ein Jahr zuvor.
Betrachtet man die gewünschten Qualifikationen, dann sind vor allem Fachkräfte mit dualer Berufsausbildung knapp. Von den Unternehmen, die unter Personalengpässen leiden, meldet rund jedes zweite Probleme bei der Stellenbesetzung in diesem Bereich. Das liegt auch daran, dass unter den Beschäftigten der rentennahen Jahrgänge sehr viele mit Berufsabschluss sind.
Knapp vier von zehn der Firmen mit Stellenbesetzungsproblemen scheitern aktuell bei der Besetzung ihrer Ausbildungsplätze. Stellen für Akademikerinnen und Akademiker kann jedes dritte Unternehmen mit Personalengpässen nicht besetzen.
Die DIHK-Umfrage zeigt aber auch, dass aus dem Fachkräftemangel längst ein allgemeiner Arbeitskräftemangel geworden ist. So mangelt es zum Beispiel auch an Lkw-Fahrern, was die pünktliche Belieferung des Handels mit Endprodukten und der Industrie mit Rohstoffen und Vorleistungsgütern gefährde, sagte DIHK-Mann Dercks. Und 31 der Unternehmen mit Stellenbesetzungsproblemen finden selbst keine Mitarbeiter für Helfertätigkeiten, die keinen Berufsabschluss erfordern.
Dabei leiden größere Unternehmen stärker als kleinere. In drei von vier Unternehmen mit mindestens 200 Beschäftigten bleiben Stellen unbesetzt, weil sich keine geeigneten Bewerber finden.
Dabei ist aber zu bedenken, dass größere Firmen auch generell mehr neue Mitarbeiter suchen. Von den Kleinbetrieben mit weniger als 20 Beschäftigten meldet rund die Hälfte aktuell keinen Personalbedarf. In den Kleinbetrieben, die Mitarbeiter einstellen wollen, gestaltet sich die Rekrutierung aber oft besonders problematisch.
Vor allem für anstehende Zukunftsaufgaben wie die Energiewende, die Digitalisierung oder den Ausbau der Infrastruktur dürfte das Personal knapp werden. Das Gleiche gilt in Branchen, die zentral für Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit sind. Deutschland dürfe sich deshalb trotz der vielen offenen Stellen und der stabilen Arbeitsmarktlage nicht in Sicherheit wiegen, mahnte Dercks. Der Fachkräftemangel koste Wertschöpfung und erhöhe beispielsweise die Herausforderungen zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte.
In Kombination mit den hohen Energiepreisen und zusätzlichen Belastungen auf dem Weg zur Klimaneutralität könnten die Personalengpässe durchaus zu Produktionsverlagerungen ins Ausland führen.
Was die Wege aus der Fachkräftemisere angeht, haben die von der DIHK befragten Unternehmen durchaus eigene Vorstellungen. Ganz weit oben steht für sie der Bürokratieabbau. Er würde dazu beitragen, dass sich das knappe Fachpersonal wieder mehr um seine eigentlichen Aufgaben kümmern kann.
Eine Stärkung der beruflichen Bildung wünschen sich 46 Prozent der Unternehmen. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) wurden im vergangenen Ausbildungsjahr rund 475.000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen – immer noch 9,5 Prozent weniger als im Vor-Corona-Jahr 2019.
>> Lesen Sie hier: Einwanderungsreform – Bundesregierung hofft auf 50.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland pro Jahr
Die Zahl der Ausbildungsbewerber ist seit 2019 prozentual fast doppelt so stark zurückgegangen wie die Zahl der angebotenen Lehrstellen. „Die Gewinnung von Jugendlichen für eine duale Ausbildung bleibt damit eine der zentralen Herausforderungen zur Sicherung des künftigen Fachkräftebedarfs unserer Wirtschaft“, zog BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser im Dezember Bilanz.
Auszubildende zur Industrieelektrikerin
Auch im Inland sehen die befragten Unternehmen aber noch schlummerndes Fach- und Arbeitskräftepotenzial.
Bild: imago images/Rupert Oberhäuser
Nach der DIHK-Umfrage erhofft sich gut jedes dritte Unternehmen aber auch Erleichterungen bei der Einstellung ausländischer Fachkräfte, so wie sie die Bundesregierung jetzt mit der Einwanderungsreform auf den Weg bringen will.
Auch die notwendige Transformation zu mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit erfordere, die Erwerbsmigration erheblich zu steigern, sagte Wirtschaftsminister Habeck. „Deshalb sind wir uns in der Regierung einig, dass wir das Einwanderungsrecht deutlich öffnen werden und administrative Verfahren transparenter gestalten, digitalisieren und beschleunigen.“ Allerdings bringe das beste Gesetz nichts, wenn ausländische Fachkräfte in ihrer Heimat weiter ein Jahr auf ein Visum warten müssten, sagte Dercks.
Das beschleunigte Fachkräfteverfahren, das noch von der Großen Koalition mit dem 2020 in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz eingeführt worden war, sei aus Sicht der Wirtschaft eine Enttäuschung.
Auch im Inland sehen die befragten Unternehmen aber noch schlummerndes Fach- und Arbeitskräftepotenzial. Knapp ein Drittel wünscht sich eine stärkere Qualifizierung und Vermittlung von Arbeitslosen. Auch hier soll es mit dem neuen Bürgergeld schrittweise Verbesserungen geben.
Hier dämpfte Dercks allerdings die Erwartungen. Zwar gebe es noch knapp 2,5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Aber diejenigen ohne Vermittlungshemmnisse landeten entweder sehr rasch in den Betrieben oder sie lebten nicht dort, wo die Jobs seien, oder brächten nicht die gesuchten Qualifikationen mit.
Jeweils 22 Prozent der Unternehmen sehen einen Ausbau der Kinderbetreuung, der digitalen Infrastruktur oder der Möglichkeiten zum flexiblen Renteneintritt als möglichen Ausweg aus der Personalnot. Bei den Frauen ließe sich noch Erwerbspotenzial heben. Sie arbeiten im Schnitt 30 Wochenstunden, bei den Männern sind es 38. „Würden die aktuell in Teilzeit beschäftigten Frauen ihre Arbeitszeit um durchschnittlich zwei Stunden pro Woche erhöhen, entspräche das rechnerisch etwa 500.000 zusätzlichen Ganztagsstellen“, rechnete der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer vor.
Nicht zuletzt muss eine Region aber auch Lebensqualität bieten, wenn Fachkräfte sich dort ansiedeln sollen. All die Bemühungen um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden ins Leere laufen, wenn am möglichen Arbeitsort der Bus nicht fährt, die nächste Einkaufsmöglichkeit weit weg oder sonst keine Infrastruktur vorhanden ist. Und das zu ändern, das haben die Unternehmen nicht selbst in der Hand.
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