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17.11.2022

13:57

Konjunktur

Inflation in Großbritannien erreicht höchsten Wert seit 41 Jahren

Von: Torsten Riecke

Die Inflationsrate liegt im Oktober bei mehr als elf Prozent – eine Warengruppe verteuert sich noch stärker. Die britischen Arbeitnehmer reagieren nun auf den Preisschock.

Supermarkt in Großbritannien dpa

Supermarkt in Großbritannien

Die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke stiegen laut ONS im Oktober so stark wie seit 1977 nicht mehr.

London Deutlicher hätte der Alarm nicht ausfallen können: Einen Tag bevor der britische Finanzminister Jeremy Hunt seinen Rettungsplan für die Wirtschaft vorlegen will, ist die Inflation in Großbritannien auf 11,1 Prozent gestiegen. Das teilte das staatliche Office for National Statistics (ONS) mit. Vom Finanzinformationsdienst Reuters befragte Ökonomen hatten mit einem Anstieg von 10,7 Prozent gerechnet. Es ist zugleich der größte Inflationsschub seit 41 Jahren.

Hunt kommentierte den erneuten Preisschock: „Wir können kein langfristiges, nachhaltiges Wachstum mit hoher Inflation haben.“ Am morgigen Donnerstag werde er einen Plan vorstellen, „wie wir die Schulden abbauen, für Stabilität sorgen, die Inflation senken und gleichzeitig die Schwächsten schützen können“.

Inflation in Großbritannien erreicht höchsten Wert seit 41 Jahren

Zu den Schwächeren gehören auch die meisten britischen Arbeitnehmer, deren Reallöhne durch die hohen Inflationsraten rapide sinken.

Sie reagieren in ihrer Not mit Streiks für höhere Nominallöhne, um ihren Lebensstandard zu schützen. Allein im August und September gingen in der britischen Wirtschaft nach Angaben des ONS mehr als 560.000 Arbeitstage durch Streikaktionen verloren. Das ist der höchste Wert seit zehn Jahren.

Höhere Lohnforderungen führen nach Meinung der Ökonomen jedoch direkt in den Teufelskreis einer Preis-Lohn-Preis-Spirale. Die ehemalige Notenbankerin DeAnne Julius sagte der BBC: „Das ist die große Gefahr. Die Bank of England muss darauf mit weiteren Zinserhöhungen reagieren.“

Inflation in Großbritannien: Lebensmittelpreise steigen um 16,5 Prozent

Grafik

Allein die Lebensmittelpreise stiegen in den vergangenen zwölf Monaten um 16,5 Prozent. Und der staatliche Preisdeckel für Energie konnte einen weiteren Anstieg der Gas- und Stromkosten nicht verhindern. ONS-Chef-Ökonom Grant Fitzner sagte: „Steigende Gas- und Strompreise haben die Gesamtinflation trotz der Energiepreisgarantie auf den höchsten Stand seit über 40 Jahren getrieben.“

Der staatliche Preisdeckel für die Energiekosten gilt nur bis April 2023 und soll dann durch gezieltere Energiebeihilfen für einkommensschwache Haushalte ersetzt werden. Ex-Notenbankerin Julius warnt deshalb bereits vor einem erneuten Preisschub für die Mehrheit der britischen Verbraucher.

Insbesondere viele Beschäftigte in öffentlichen Dienst sehen ihre Streiks als eine Art Notwehr. Mark Serwotka, Chef der Public and Commercial Services Union (PCS), sagt: „Wenn die Regierung nicht auf uns hört, haben wir keine andere Wahl, als ein längeres Programm von Arbeitskampfmaßnahmen zu starten, das alle Bereiche des öffentlichen Lebens betrifft.“

Die Gewerkschaft fordert unter anderem Lohnerhöhungen von zehn Prozent.

Streik betrifft viele Arbeitnehmer

Vergangene Woche votierten die Krankenschwestern im staatlichen Gesundheitsdienst NHS erstmals in ihrer mehr als 100-jährigen Geschichte für einen Arbeitskampf. Zuvor war bekannt geworden, dass einige Krankenhäuser Lebensmittelspenden organisieren, um ihre Mitarbeiter zu unterstützen. Pat Cullen, Vorsitzender der Berufsorganisation Royal College of Nurses (RNC), sagte: „Unsere Mitglieder sagen: ,Genug ist genug.'“

llein im August und September gingen in der britischen Wirtschaft nach Angaben des ONS mehr als 560.000 Arbeitstage durch Streikaktionen verloren, das ist der höchste Wert seit zehn Jahren. dpa

U-Bahn-Streik

llein im August und September gingen in der britischen Wirtschaft nach Angaben des ONS mehr als 560.000 Arbeitstage durch Streikaktionen verloren, das ist der höchste Wert seit zehn Jahren.

Als Premierminister Rishi Sunak kürzlich die Universitätsklinik Croydon besuchte, wurde er vor laufenden TV-Kameras von der 77-jährigen Patientin Catherin Poole aufgefordert, sich „mehr anzustrengen“, um die Lage im Gesundheitswesen zu verbessern.

Auch in anderen Bereichen der britischen Wirtschaft gärt es unter den Arbeitnehmern. Die Streikwelle reicht von Eisenbahnern, Hafenarbeitern und Bodenpersonal an Flughäfen über Lehrer, Universitätsangestellte und Postboten bis in die öffentliche Verwaltung und Verkehrsbehörden. Selbst im Hauptquartier des britischen Geheimdienstes GCHQ in Cheltenham sind Mitarbeiter auf Lebensmittelspenden angewiesen.

Gewerkschaften drohen wegen hoher Inflation mit Generalstreik

Britische Gewerkschafter drängen darauf, die Arbeitskämpfe noch vor Weihnachten zu einer Art „Generalstreik“ zu koordinieren, um die konservative Regierung von Sunak weiter unter Druck zu setzen. Das britische Arbeitsrecht verlangt jedoch, dass von den Gewerkschaften bestimmte Mindestquoten für einen Streik erreicht werden müssen, was eine Koordination schwierig macht.

Britischer Premierminister Rishi Sunak (links) und sein Finanzminister Jeremy Hunt im Unterhaus (Archivfoto). AP

Britische Regierung unter Inflationsdruck

Britischer Premierminister Rishi Sunak (links) und sein Finanzminister Jeremy Hunt im Unterhaus (Archivfoto).

Premierminister Sunak äußerte am Rande des G20-Treffens auf Bali zwar Verständnis für den Unmut, lehnte die Gehaltsforderungen der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst jedoch als übertrieben ab.

Die Streikwelle könnte für Sunak politisch durchaus gefährlich werden. Insbesondere, wenn sich der öffentliche Unmut ausbreitet und ein ähnliches Ausmaß wie im berüchtigten „Winter des Missvergnügens“ 1978/79 erreicht.

Alle Augen richten sich deshalb auf die Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen, die Finanzminister Hunt am Donnerstag im britischen Parlament verkünden wird. Der Schatzkanzler hat bereits angekündigt, dass sich der öffentliche Dienst auf harte Einschnitte gefasst machen muss. Großbritannien geht politisch unruhigen Zeiten entgegen.

Erstpublikation: 16.11.22, 10:51 (aktualisiert am 16.11.22, 12:00 Uhr).

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