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23.07.2018

10:48

Für deutsche Ohren klingt Kritik an Freihandel und offenen Grenzen für Güter und Kapital befremdlich. dpa

Globalisierung schafft Verlierer

Für deutsche Ohren klingt Kritik an Freihandel und offenen Grenzen für Güter und Kapital befremdlich.

Soziale Folgen der Globalisierung

Freihandel kennt auch Verlierer – und Trump gibt ihnen eine Stimme

Von: Jörg Lichter

Stärker als in vielen anderen Ländern herrscht in Deutschland die Überzeugung vor, dass vom Freihandel alle profitieren. Ein Blick in die Geschichte des internationalen Handels zeigt allerdings: Die Globalisierung schafft stets auch Verlierer. Diese sozialen Folgen wurden zu lange nicht berücksichtigt.

Düsseldorf In keinem Land ist die Erregung über die protektionistische Außenhandelspolitik von US-Präsident Donald Trump größer als in Deutschland. Das ist verständlich, basiert doch der Wohlstand dieser viertgrößten Volkswirtschaft der Welt zu einem sehr großen Teil auf der Ausfuhr namentlich von industriellen Erzeugnissen in andere Länder. Die Trump-Administration hat höhere Einfuhrzölle eingeführt und droht nun, diese weiter zu erhöhen und auf andere Güter auszuweiten. Diese Einfuhrzölle sind zweifellos nachteilig für das in fast einhundertfünfzig Jahren entstandene deutsche Geschäftsmodell eines exportgetriebenen Wirtschaftswachstums.

Für deutsche Ohren klingt Kritik an Freihandel und offenen Grenzen für Güter und Kapital befremdlich. Denn hierzulande herrscht fast mehr als anderswo die Überzeugung, dass nach Maßgabe des Theorems der komparativen Kostenvorteile von einem ungehinderten Güterverkehr alle beteiligten Volkswirtschaften profitieren. Schließlich, so die Theorie, erhöht sich in Folge der internationalen Arbeitsteilung die wirtschaftliche Gesamtleistung in diesen Ländern erhöht.

Unstrittig ist, dass durch ungehinderte Güter- und Kapitalströme die weltwirtschaftliche Gesamtleistung steigt. Dies bedeutet aber noch nicht, dass dies in jedem der beteiligten Länder der Fall ist, geschweige denn, dass der „Außenhandelsgewinn“ zu gleichen Teilen oder auch nur proportional zur wirtschaftlichen Größe in den beteiligten Ländern anfällt.  Denn es wird gerne verdrängt, dass Freihandel stets von den „ökonomisch Starken“ propagiert wurde. Man findet nur wenige Schwellen- und Entwicklungsländer unter den Verfechtern dieses Prinzips. In diesen Ländern war und ist vielmehr der Erziehungszollgedanke populär.

Bis Anfang der 1970er-Jahre galt das auch für Japan oder Südkorea, beides Staaten, die hinter Schutzzöllen ihre heute sehr wettbewerbsfähigen Industrien aufbauten. Heute sind beide Länder Verfechter offener Grenzen für Güter und Kapital.  Und nicht zufällig wurde der ungehinderte Warenfluss zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Großbritannien theoretisch begründet und politisch durchgesetzt. Zu der Zeit war Großbritannien Vorreiter der Industrialisierung und das ökonomisch am weitesten entwickelte Land seiner Zeit. Heute zählt auch Deutschland unter den großen Volkswirtschaften zu den Gewinnern, werden hier doch die höchsten Handelsbilanzüberüberschüsse der Welt erwirtschaftet.

Donald Trump hat mit seiner brachialen Art ein Problem auf die Tagesordnung gesetzt, das in Deutschland gerne ausgeblendet wird: Die auf dem Freihandelsprinzip basierende Globalisierung der vergangenen 25 Jahre erzeugt nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Nicht erst Nobelpreisträger Paul Samuelson hat im Jahr 2004 gezeigt, dass auch in Ländern, die im gesamtwirtschaftlichen Saldo vom Freihandel profitieren, Arbeitsplätze in der Summe verloren gehen können. Wenn das ärmere Land – Samuelson hatte dabei China im Blick – den technologischen Rückstand gegenüber dem reicheren Land – in Samuelsons Beispiel die USA – rasch aufhole, können die USA im Ergebnis der Verlierer des bilateralen Handels sein. Ein Blick in die Statistik bestätigt diese Theorie. Tatsächlich ist in den Vereinigten Staaten die Importkonkurrenz aus China im Zeitraum zwischen 2001 und 2014 um 25 Prozentpunkte gestiegen. Hatten Einfuhren aus China vor dessen WTO-Beitritt einen Anteil von lediglich fünf Prozent an der Produktion eines US-Industriezweigs, so sind es nun 30 Prozent.

So kann es eigentlich nicht überraschen, dass der US-amerikanische Präsident Donald Trump die USA als Verlierer der Globalisierung und des Freihandels sieht und nicht länger bereit ist, negative Handelsbilanzsalden mit Ländern wie China und Deutschland zu akzeptieren. Über den Weg, wie er dieses Ziel erreichen will, kann man freilich streiten. Aber die bisherigen Antworten aus Europa sind wohlfeil. Denn die Europäische Union (EU) schützt ihren gemeinsamen Binnenmarkt nach außen durch ein umfangreiches Repertoire tarifärer und nichttarifärer Handelshemmnisse. Deshalb weist Donald Trump mit Recht darauf hin, dass die EU zum Schutz der einheimischen Automobilindustrie einen Einfuhrzoll von zehn Prozent auf Pkw erhebt – die USA dagegen bisher nur 2,5 Prozent. Entgegen aller Lippenbekenntnisse zum Freihandel sind bislang weder die deutsche Automobilindustrie noch die Bundesregierung mit Nachdruck für eine Beseitigung dieses EU-Zolls eingetreten.

Wichtiger noch als diese Debatte ist, dass Trump den Verlierern der Globalisierung in den USA eine Stimme gegeben und deshalb die Wahl im November 2016 gewonnen hat. Wer sich darüber informieren möchte, welche ökonomischen und sozialen Verwerfungen das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen den USA, Mexiko und Kanada seit 1994 in den ohnehin schon ökonomisch schwach strukturierten Südstaaten der USA angerichtet hat, dem seien Paul Theroux´ Reisebericht „Tief im Süden“ oder George Packers „Die Abwicklung“ als Lektüre empfohlen. Darin wird außerdem ersichtlich, wie der sogenannte Rust Belt im Nordosten des Landes unter der wachsenden Konkurrenz aus China zu leiden hat. .

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Diese oft verdrängten Folgen der Globalisierung sind nicht auf die USA beschränkt, in abgeschwächter Form findet man sie selbst beim „Exportvizeweltmeister“ Deutschland. Eine Studie von Ökonomen der Universität Düsseldorf zeigt, dass in Westdeutschland im Gegensatz zu den USA zwischen 1990 und 2010 im Saldo ein Aufbau von fast einer halben Million Industriearbeitsplätzen stattgefunden hat. Hinter dem positiven Saldo verbergen sich jedoch zwei gegenläufige Entwicklungen: Auf der einen Seite wurden fast eine Million Arbeitsplätze neu geschaffen.

Andererseits verschwanden eine halbe Million Stellen in den Regionen mit „alten“ Industrien, die der kostengünstigeren, internationalen Konkurrenz zum Opfer gefallen sind. Davon betroffen waren vor allem das Ruhrgebiet (Schwerindustrie), die Pfalz (Textil) und Oberfranken (Elektro). Das Problem: Die Arbeitsplatzverlierer in diesen Regionen sind nicht identisch mit Beschäftigten, die auf den neu geschaffenen Stellen in Niederbayern, Schwaben und im Allgäu arbeiten.

Bei aller Euphorie über das Wachstum der Weltwirtschaft und die Dynamik des Welthandels seit dem Zusammenbruch des Ostblocks vor 30 Jahren sind die Beschäftigten in den „alten“ Industrien der entwickelten Volkswirtschaften von der Politik aber auch weiten Teilen der ökonomischen Wissenschaft vergessen worden. So ist in dem weit verbreiteten Lehrbuch der Nationalökonomie von Gregory Mankiw und Mark Taylor die lapidare Feststellung zu lesen, dass eine Produktionsverlagerung ins kostengünstigere Ausland „kurzfristig gewisse Härten für die zum Arbeitsplatzwechsel gezwungenen Arbeiter mit sich bringt“.

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Diese Auffassung geht an der Lebensrealität und den beruflichen Möglichkeiten eines von der Arbeitslosigkeit betroffenen, fünfzigjährigen Stahlarbeiters aus Ohio oder dem Ruhrgebiet weit vorbei.

Die akademische Volkswirtschaftslehre leidet derzeit nicht nur unter einem Methodenproblem, ihr ist auch ein zentrales Objekt des Erkenntnisinteresses dieser Real- und Sozialwissenschaft verloren gegangen – der Mensch. Viele angesehene Vertreter der Volkswirtschaftslehre blenden den gesellschaftlichen Rahmen aus, in den das von ihnen analysierte wirtschaftliche Handeln eingebunden ist. Im Bestreben weniger als eine Sozialwissenschaft und mehr als eine exakte Formalwissenschaft ähnlich der Mathematik wahrgenommen zu werden, ist in den ökonomischen Modellen des akademischen Mainstreams der Mensch zum Produktionsfaktor „Arbeit“, zu „Humankapital“ oder zum „Konsumenten“ reduziert.

Der sogenannte Produktionsfaktor Arbeit ist aber in der Realität nicht so mobil wie das nach rentablen Investitionen suchende Kapital – weder regional noch sektoral. Es gibt familiäre Bindungen, mentale Vorbehalte, das (Aus-)Bildungsniveau, und in nicht wenigen Fällen ist es auch das Lebensalter, das einer Umsiedlung innerhalb Deutschlands oder dem Ergreifen eines neuen Berufes entgegensteht.

Da sich die Wirtschaftswissenschaften selten mit den individuellen Kollateralschäden des ökonomischen Fortschritts beschäftigen, haben sie bis jetzt auch keine belastbare Antwort auf die Frage gefunden, wie die Verlierer der Globalisierung von den Gewinnern entschädigt werden können. In der Wohlfahrtsökonomie, einem Teilgebiet der Wirtschaftstheorie wird in diesem Kontext auf das „Kaldor-Hicks-Kriterium“ verwiesen, wonach eine Innovation oder eine strukturelle Anpassung dann gesellschaftlich von Nutzen und zu fördern ist, wenn die Gewinner dieses Modernisierungsschubes in der Lage sind, die Verlierer zu kompensieren und dennoch ein gesamtwirtschaftlicher Überschuss verbleibt. Im bereits zitierten Standardlehrbuch kann man jedoch lesen, dass es in der Praxis höchst selten dazu kommt, dass Verlierer entschädigt werden. Ohne diese „theoretisch mögliche Kompensation“ der Verlierer durch die Gewinner, würde der Wohlstandskuchen zwar größer, „einige Beteiligte aber mit einem kleineren Stück als zuvor dastehen“. Einen Lösungsansatz für dieses verteilungspolitische Problem sucht man vergeblich.

Fehlende wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte zur Integration der Verlierer sind nicht nur von akademischem, sondern eminent politischem Interesse. Andernfalls wird es kaum gelingen, die Wähler Donald Trumps und der AfD für Demokratie und Marktwirtschaft zurückzugewinnen. 

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