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24.03.2020

11:33

Armin Grunwald

„Die Krise zeigt uns, wie hochgradig anfällig unsere Welt für Störungen ist“

Von: Christof Kerkmann, Ina Karabasz

Der Philosoph und Physiker Armin Grunwald erklärt, warum die Coronakrise ähnliche Auswirkungen wie der 11. September 2001 haben könnte.

„Das Analoge wird wieder mehr im Vordergrund stehen.“ Credits: Marko Priske, dpa, getty images (M)

Armin Grunwald

„Das Analoge wird wieder mehr im Vordergrund stehen.“

Credits: Marko Priske, dpa, getty images (M)

Düsseldorf Das Gespräch findet – wie sollte es in diesen Tagen anders sein – telefonisch statt. Armin Grunwald und seine Kollegen versuchen, soweit es geht, Konferenzen virtuell abzuhalten, doch dabei hakt es oft noch. „Wir haben uns aus Sorglosigkeit nicht ausreichend um Alternativpläne gekümmert“, sagt der Philosoph und Physiker, der das Büro für Technikfolgenabschätzung leitet und damit ein einflussreicher Politikberater ist.

Herr Grunwald, in anderen Ländern nutzen die Behörden Technologien, um die Bewegungen der Bürger und damit die Ausbreitung des Coronavirus zu überwachen. Ein Modell für Deutschland?
Natürlich würde man sich eine Technologie wünschen, die die Ausbreitungswege des Virus verfolgt, aber das hat auch China nicht. China überwacht nicht das Virus, sondern die Menschen, das ist nur eine indirekte Beobachtung. Wir haben ein gutes medizinisches Netz, so dass wir die Daten über die Ausbreitung auch auf normalen Wegen erhalten: Die Patienten werden erfasst, dann ist das Wissen da.

In Deutschland hat das Robert Koch-Institut Daten der Telekom erhalten – was teilweise auf Kritik stößt.
Bei solchen Themen muss man immer abwägen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht absolut. Weil das Recht auf körperliche Unversehrtheit durch das Virus stark beeinträchtigt ist, halte ich es für machbar. Es geht darum, auf bestimmte Rechte zeitweise zu verzichten, zumindest zum Teil, wenn andere Rechte unter Druck stehen.

Wie kann eine solche ausgewogene Lösung aussehen?
Der Blick in die Geschichte zeigt, dass uns solche Abwägungen in der Vergangenheit meist ganz gut und friedlich gelungen sind. Bei der Volkszählung 1987 gab es große Aufregung, weil viele der Meinung waren, es würden zu viele Daten abgefragt. Am Ende gab es einen Gerichtsbescheid, der erstmalig das Recht auf informelle Selbstbestimmung regelt. Das zeigt, wie wichtig es ist, Menschen die Wahl zu geben. Man will selbst entscheiden, welche Daten man preisgibt. Schließlich lässt sich nicht prognostizieren, wofür die Daten in Zukunft sonst noch verwendet werden könnten.

Was genau meinen Sie?
Unsere Geheimdienste und Polizei sind demokratisch legitimiert. Aber es bleibt eine Sorge: Wenn die Demokratie Schaden nehmen würde und wir eine solche Überwachungstechnik systematisch ausgerollt hätten, stünde sie einem anderen Regime uneingeschränkt und ohne demokratische Kontrolle zur Verfügung. Diese Möglichkeit ist für viele Menschen erschreckend.

Sind Menschen in Krisen nicht eher bereit, Daten preiszugeben und Überwachungstechnologien zu akzeptieren?
Wenn sich die Situation ändert, fällt die Balance zwischen Datenschutz und anderen Zielen anders aus. Das ist völlig in Ordnung, es muss nur bewusst geschehen und darf nicht einfach übergestülpt werden. Diese Gefahr gibt es natürlich. Es gab einen ähnlichen Fall, bei dem sich massiv die gesamte Welt verändert hat, an einem Tag.

Sie meinen…
… natürlich den 11. September 2001. Man kannte vorher Terrorismus und Flugzeugentführungen, aber so etwas hatte die Welt noch nicht gesehen. Das hat bis heute den Einsatz von digitalen Überwachungstechnologien stark verändert. Daran kann man sehen, dass Krisen eine Disruption darstellen, die die Haltung von Menschen ändert. Das sollte man nicht einfach verurteilen. Die Umstände haben sich geändert, damit die Wahrnehmung und die Balance zwischen Rechtsverhältnissen. Das hat seine eigene Rationalität.

Könnte die Coronakrise ähnliche Auswirkungen haben wie der 11. September?
Ja. Die Krise zeigt uns, wie hochgradig anfällig unsere Welt für Störungen ist. Wir sind gewohnt, dass alles immer gut funktioniert, Lebensmittel da sind, wir Freizügigkeit genießen, die Grenzen offen sind. Jetzt kommt ein Virus und nichts geht mehr. Es fahren ganze Gesellschaften herunter auf ein Maß, das man sich vor einigen Monaten nicht hätten denken können. Vielleicht lernen wir daraus, viel sensibler zu sein für die totalen Abhängigkeiten, in die wir uns in den letzten Jahrzehnten selbst durch die Globalisierung und Digitalisierung gebracht haben. Wenn Internet nicht mehr funktionieren würde, würde gar nichts mehr funktionieren. Wir brauchen für vieles einen Plan B, und das haben wir bisher aus Sorglosigkeit verdrängt.

Welche langfristigen Auswirkungen wird das auf die Aufgeschlossenheit der Deutschen gegenüber Technologie haben? Wir gelten gemeinhin ohnehin als skeptisch.
Bei dem Thema werde ich manchmal wütend. Die Deutschen sind gar nicht so technologieskeptisch. Das ist eine Wahrnehmungsfrage. Die Deutschen laden jede neue App runter und schaffen jeden neuen technischen Schnickschnack an. Im Verhalten gibt es diese Skepsis empirisch nicht. Digitale Angebote machen das Leben komfortabel und bequem, deswegen wollen die Menschen sie haben. Psychologen nennen das kognitive Dissonanz: Wir wissen, dass es missbraucht werden kann, aber wir verdrängen das.

Es gibt aktuelle Studien, die zeigen, dass deutsche Unternehmen weniger digitalisiert sind als internationale Wettbewerber.
Es stimmt nicht, dass der Mittelstand pauschal hinterherhinkt. Wir haben eine hohe Nutzung der digitalen Technologien, etwa im Maschinenbau, weil dort viel digitale Technik verbaut ist.

Sind wir in Deutschland damit vorbereitet auf das, was die Digitalisierung bringen wird?
Sie formulieren das passiv, aber die Digitalisierung ist nichts, was auf uns zurollt. Wir beschäftigen uns damit schon seit 50 Jahren. Wir sind keine Opfer, sondern haben eine ganze Menge Gestaltungsmöglichkeiten. Die haben wir vielleicht in der Vergangenheit nicht genutzt. Es ist viel motivierender, aktiv da reinzugehen.

Sie beraten Politik mit Technikfolgenabschätzung. Wie funktioniert das? Wie prognostiziert man die Welt in 10 oder 20 Jahren?
10 bis 20 Jahre vorausschauen ist extrem schwer. Stellen Sie sich die digitale Welt von 2000 vor: Da gab es keine sozialen Medien, keine Künstliche Intelligenz in der heutigen Form. 20 Jahre ist sehr lange in der digitalen Welt.

Und nichtsdestotrotz versuchen Sie es!
Wir sind keine Zukunftsforscher, wir machen auch keine Prognosen. Unser Ansatz ist, mögliche plausible und möglichst wahrscheinliche Zukünfte zu entwerfen. Der Plural ist hier wichtig, denn die Gegenwart 2030 kann sehr unterschiedlich aussehen. Dann steigen wir in einen Bewertungsprozess ein, der nicht nur von Experten betrieben werden kann, sondern an dem auch die Zivilgesellschaft teilnehmen soll. Der Blick in die Zukunft dient immer nur dazu, für heute Orientierung zu schaffen: Was kann man machen, was sollte man machen, welche Folgen haben die Handlungen…

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Schon seit einigen Jahren heißt es, Roboter könnten einen Teil der Pflege übernehmen, den Pflegenotstand beheben, das ganze System effizienter machen. Das haben wir uns angeschaut und gesehen: Da ist ganz schön viel aufgeblasene Luft in der Erzählung. Japan hat hunderte Millionen Dollar in Roboter investiert, die Menschen umbetten können. Es gab drei Wellen der Entwicklung, dann haben sie sie abgebrochen. Sie haben es nicht geschafft, den Robotern die Sensibilität, die wir Menschen in den Fingern haben, beizubringen.

Aber es gibt da doch durchaus auch positive Beispiele.
Das stimmt. Roboter können Botendienste übernehmen, also Waren durch die Zimmer fahren. Vieles andere ist Vision und scheitert auch an der Frage, ob wir wirklich unsere Mitmenschen von Robotern betreuen lassen wollen. Oft werden solche Entwicklungen vom technischen Ende her gedacht. Wir müssen uns aber zuerst darüber unterhalten, was gute Pflege ist und dann können wir den Platz von Robotern definieren. Technik ist immer nur ein Mittel zum Zweck.

Beratungen oder Technologiepropheten sind manchmal weniger vorsichtig dabei, die Zukunft zu prognostizieren.
Diese Zukunftsszenarien sind manchmal Visionen oder sogar Erfindungen, aber sie haben eine riesige Macht: Sie mobilisieren Menschen, Geld, sie machen Stimmung und sie können auch selbsterfüllend wirken. Manche Visionäre haben Erfolg damit, große Geschichten zu erzählen und damit Venture Capital zu mobilisieren. Viele futuristische Zukunftsdebatten sind ein Spiel mit aufgeblasener Luft. Das ist nicht pauschal schlecht, weil es die Debatten lebendig macht. Aber wir müssen auch dahinter schauen.

Vita Armin Grunwald

Der Physiker

Grunwald hat in Marburg neben Physik auch Mathematik und Philosophie studiert und ist für seine Promotion 1987 nach Köln gewechselt, wo er seine Dissertation zur theoretischen Festkörperphysik schrieb.

Der Philosoph

Nach der Promotion ging Grunwald zurück an die Universität Marburg und habilitierte dort in Philosophie.

Der Leiter

Grunwald ist als Chef des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Bundestag seit 2002 im Amt. Seit 2007 lehrt er an der Universität Karlsruhe Technikphilosophie und Technikethik und ist Leiter des Programms „Technologie, Innovation und Gesellschaft“ am Karlsruher Institut für Technologie.

Gleichzeitig bauen Unternehmen ihre Strategie auf solchen Zukunftsszenarien auf. Welche Halbwertszeit haben solche Überlegungen, selbst wenn wir nicht auf einmal in einer Krise stecken?
Solche Strategieüberlegungen sind wie unsere wissenschaftlichen Szenarien fast immer auf der Prämisse aufgebaut, dass die Zukunft ungefähr so aussieht wie sie heute ist, nur ein bisschen anders. Da wird eine große Kontinuität vorausgesetzt. Wir bauen auf den Daten der Vergangenheit auf, treffen einige Annahmen, zum Beispiel zum demografischen und technologischen Wandel, dann sieht das Jahr 2030 so ähnlich aus wie heute, mit ein bisschen mehr Digitalisierung und Automatisierung.

Und wenn dann eine Krise wie Corona kommt?
Solche Entwicklungen wie jetzt mit dem Coronavirus oder dem 11. September machen solche Strategieüberlegungen zunichte, teilweise über Nacht. Denken Sie an das Reaktorunglück in Fukushima, als die großen Energieversorger ihre Strategieüberlegungen, die für Jahrzehnte galten, komplett umschreiben mussten. Schon der Philosoph Augustinus wusste: Es gibt keine Zukunft, sondern nur die Ideen, die wir uns von ihr machen. Zukunftsbilder sind ein Spiegel unserer aktuellen Gesellschaft.

Sie beraten den Bundestag. Was bedeutet das für die politische Förderung von Technologien?
Wir sollten dabei etwas Aktionismus herausnehmen. Welche Technologien gefördert werden, hat auch viel mit Wellen des öffentlichen Interesses zu tun. Das war eine Zeit lang etwa das autonome Autofahren oder Künstliche Intelligenz. Bei beidem hat eine Normalisierung eingesetzt. Das ist die Aufmerksamkeitsökonomie, von der einige Gegenwartsdiagnostiker sprechen.

Könnte die derzeitige Abhängigkeit von digitalen Technologien für den sozialen Austausch auch dazu führen, dass die Menschen das Analoge, besonders das echte Zusammentreffen wieder mehr schätzen?
Das Analoge wird wieder mehr im Vordergrund stehen. Ein Beispiel: In den letzten Jahren war das Wort Virus mit dem Computer verknüpft. Jetzt kommt ein analoger Virus daher und bringt die ganze Welt durcheinander. Da meldet sich die analoge Welt zu Wort. Es ist sehr gut, dass wir die digitalen Technologien haben. Wenn es eine Ausgangssperre gibt, können wir uns weiterhin austauschen und zwar weltweit. Aber wenn man auf das Digitale beschränkt wird, ist das eine ärmliche Welt.

Herr Grunwald, vielen Dank für das Interview.

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