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13.04.2021

12:20

Digitale Revolution

KI to go: Was Crashkurse und vorgefertigte Softwarelösungen leisten können – und was nicht

Von: Anis Mičijević

Bootcamps und Baukästen senken die Hürden für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Unternehmen sollten dabei einige Dinge beachten.

Künstliche Intelligenz wird entweder das Beste oder das Schlimmste sein, was der Menschheit je widerfahren wird, meinte Stephen Hawking 2016. Montage: Getty Images

Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz wird entweder das Beste oder das Schlimmste sein, was der Menschheit je widerfahren wird, meinte Stephen Hawking 2016.

Düsseldorf Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Mehrere Menschen sitzen in einer Bar. Es gibt keine Getränkekarten. Stattdessen wird eine virtuelle Getränkeliste auf die Tischoberfläche am Platz projiziert. Durch Fingertippen auf den Tisch können die Gäste bestellen und bezahlen. Doch nicht nur das: Mithilfe einer Schritt-für-Schritt-Anleitung können sie sich direkt am Tisch ihren Cocktail selbst mixen, der kurz darauf gebracht wird.

Den Prototyp für eine solche Anwendung, bei dem Augmented Reality, maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz kommen, hat das Start-up Lampix entwickelt. Im Rahmen des neunwöchigen KI-Bootcamps „AITalents“ stellte es wie einige weitere Start-ups seine Datensätze zur Verfügung, mit denen die Teilnehmer spezifische Aufgaben lösen sollten – darunter auch der 21-jährige Leon Iwanowitsch.

„Besonders gut an dem Programm hat mir gefallen, dass wirtschaftliches und technisches Denken zusammengebracht werden mussten und all das nicht nur theoretisch, sondern anhand eines Prototyps“, sagt „AITalents“-Teilnehmer Iwanowitsch, der Wirtschaftswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt studiert.

Das Bootcamp wurde von der 2016 gegründeten Innovationsplattform Tech-Quartier ins Leben gerufen. Rund 200 fortgeschrittene Studierende und Young Professionals aus aller Welt wurden allein im Rahmen der jüngsten Ausgabe kostenlos im Bereich KI und maschinelles Lernen ausgebildet. Die vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Veranstaltung fand dieses Jahr Corona-bedingt komplett digital auf einer eigens dafür geschaffenen Lernplattform statt.

„Die jungen Menschen wollen besser verstehen, wie man Technologien entwickeln und sie auch kommerzialisieren und anwenden kann“, sagt Tech-Quartier-Geschäftsführer Thomas Funke. Er bekomme ständig Anfragen von Studierenden, die wissen wollen, wie man ein datengetriebenes Geschäftsmodell entwickelt. „Zudem glauben wir, dass KI eine Technologie ist, die unglaublich viel umwälzen wird. Je mehr das verstehen und bearbeiten, umso besser“, glaubt er.

Und auch auf Unternehmensseite wird der Bedarf immer größer: Laut einer Umfrage der Unternehmensberatung Bearing Point im Rahmen des Digitalisierungsmonitors 2020 gehen 94 Prozent der Befragten aus Unternehmen davon aus, dass KI ihre Branche beeinflussen oder revolutionieren wird. Gleichzeitig gaben 54 Prozent aller befragten Unternehmensvertreter an, ihnen seien keine internen KI-Initiativen bekannt.

Konzerne bieten eigene Softwarepakete an

Gerade viele kleinere und mittlere Unternehmen in Deutschland wissen laut Experten noch gar nicht so genau, in welchen Geschäftsbereichen der Einsatz von KI für sie überhaupt sinnvoll sein könnte. Zudem sind Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt nur äußerst schwer zu finden: Die Zahl der offenen Stellen für IT-Spezialisten auf dem deutschen Arbeitsmarkt liegt laut Daten des Digitalverbands Bitkom bei rund 86.000. Fazit: Sowohl der Fachkräftemangel als auch der Weiterbildungsbedarf sind enorm.

Abhilfe versprechen zum einen Bootcamps – wie jenes, an dem Leon Iwanowitsch teilgenommen hat –, in denen die Teilnehmer innerhalb von nur wenigen Wochen die Grundlagen der Technologie vermittelt bekommen. Die Angebote richten sich an verschiedene Zielgruppen wie zum Beispiel Studierende, Mitarbeiter aus Unternehmen oder einfach Technologieaffine.

Neben „AITalents“ existieren noch viele weitere Bootcamp-Angebote. Das Start-up „Neue Fische“ der früheren Bertelsmann-Managerin Dalia Das schult beispielsweise Quereinsteiger innerhalb von drei Monaten zu Webentwicklern oder Data Scientists um.

Zum anderen bieten nicht zuletzt große Techkonzerne wie IBM oder Microsoft eigene Softwarepakete für Unternehmen an – vorgefertigte KI-Baukästen, bei denen sich die Kunden die Programmierarbeit weitgehend sparen und die Technologie vergleichsweise unkompliziert einsetzen können.

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Doch reicht es aus Unternehmenssicht wirklich aus, ein paar Mitarbeiter in ein KI-Bootcamp zu schicken und ein KI-Softwarepaket einzukaufen, um die Technologie gewinnbringend einzusetzen? Oder droht im Falle eines zu unbedachten Einsatzes von KI-Werkzeugen bei nur oberflächlichem Know-how gar ein Szenario wie in der Ballade von Johann Wolfgang von Goethe, wo der Zauberlehrling die Geister, die er rief, nicht mehr loswird?

„Ich glaube nicht, dass KI etwas Zauberhaftes oder Magisches darstellt“, stellt Matthias Biniok von IBM nüchtern fest. Selbst das, was an großen Themen wie selbstlernenden neuronalen Netzen magisch anmute, sei letztlich nur ganz hohe Mathematik. „KI ist auch nur eine Technologie – die zwar toll ist, die aber bei Unternehmen nur dazu eingesetzt werden sollte, ein Geschäftsproblem zu lösen – zum Beispiel die Kundenzufriedenheit zu erhöhen, Kosten einzusparen oder Prozesse zu optimieren“, sagt Biniok.

Er ist leitender Architekt für die Watson-Lösungen im deutschsprachigen Raum: Auf der Watson-Plattform bietet IBM Unternehmenskunden eine Reihe von vorgefertigten KI-Anwendungen an, die sich auf den gängigen Cloudplattformen integrieren lassen, ohne dass ein hohes Maß an technischem Fachwissen oder Entwickler-Know-how erforderlich ist.

Verständnis der Prozesse ist hilfreich

Zu den Kunden gehören laut Biniok sowohl Unternehmen, die mithilfe von IBM eine eigene KI-Abteilung aufbauen wollen, als auch diejenigen, die lediglich einen bestimmten Anwendungsfall mithilfe von KI automatisieren wollen. „Im ersten Fall haben die Unternehmen meistens schon eigene Data Scientists oder Ingenieure für maschinelles Lernen an Bord, die sich mit der Materie auskennen und nur noch ein bisschen Unterstützung und die richtigen Werkzeuge brauchen, um loszulegen“, erklärt der IBM-Manager.

Im zweiten Fall möchte ein Kunde beispielsweise die Bearbeitung von eingehenden E-Mails zu einem bestimmten Teil automatisieren und für diesen Zweck ein KI-Tool einsetzen. „Hier sollen nur einige Fachexperten des Unternehmens in der Lage sein, auf einer leicht zu bedienenden Oberfläche das System zu trainieren, ohne dass tiefes Wissen über maschinelles Lernen oder KI vorhanden ist“, sagt Biniok. Die meisten Anfragen bewegten sich allerdings zwischen diesen beiden Extremen.

Ohnehin ist bei der Entwicklung von KI bereits einiges vorgefertigt: Programmierer greifen in den meisten Fällen auf bestehende Programmbibliotheken (Libraries) oder Programmierschnittstellen (APIs) zurück. „Das schreibt heute keiner mehr selbst im Code“, erklärt Jörg Bienert, Vorstandsvorsitzender des KI Bundesverbandes und Partner und CPO des KI- und Data-Science-Beratungsunternehmens Alexander Thamm.

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Doch das Verständnis der Prozesse ist hilfreich. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen kann es lohnenswert sein, sich KI-Expertise extern einzukaufen, glaubt Martin Talmeier, Leiter des Mittelstand-4.0-Kompetenzzentrums Berlin. Der KI-Trainer vom Hasso-Plattner-Institut (HPI) vermittelt im Rahmen der vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Initiative in der Region Berlin-Brandenburg in vierstündigen Einstiegskursen die Grundlagen der Technologie.

„Wir haben sehr viele kleine und kleinste Unternehmen, die zu uns kommen. Das geht hoch bis zu einigen Hundert Mitarbeitern“, berichtet Talmeier. Im Gegensatz zu den ganz großen Unternehmen, die schon wüssten, welche Lösungen sie brauchen, sei hier der Beratungsbedarf besonders hoch.

Ihm sei es wichtig, seine Kursteilnehmer „sprechfähig“ gegenüber den Dienstleistern zu machen, die KI-Lösungen anbieten. Das heißt: Sie sollen sich zunächst des Potenzials und der Grenzen der Technologie bewusst werden, um anschließend konkrete Anwendungsfälle in ihren Unternehmen identifizieren zu können. „Die Teilnehmer müssen nicht zwingend wissen, wie ein Algorithmus funktioniert. Sie müssen allerdings die Vertrauenswürdigkeit von KI-Experten beurteilen können“, sagt Talmeier. Aus diesem Grund ist er davon überzeugt, dass selbst vierstündige KI-Crashkurse den Unternehmen weiterhelfen können.

Viele Teilnehmer hätten zudem bereits vage Ideen für KI-Projekte, wüssten aber nicht, wie sie sie in der Praxis umsetzen sollen. In solchen Fällen haben Unternehmen die Möglichkeit, sich um einen Platz in einem der dreitägigen KI-Intensivseminare zu bewerben, die Talmeier zusammen mit vier weiteren KI-Experten vom HPI betreut. Diese finden jedoch nur halbjährlich statt, und die Teilnehmerzahl ist auf vier Unternehmen begrenzt.

Dafür bekommt jedes Unternehmen einen eigenen Coach, der es über die drei Tage begleitet. Die Förderung für das Kompetenzzentrum läuft nach fünf Jahren im April 2021 aus. Talmeier hofft jedoch, dass die Bundesregierung ein neues Projekt dieser Art ins Leben ruft.

Expertin warnt vor überzogenen Erwartungen

Neben der Initiative Mittelstand 4.0 betreibt das HPI bereits seit 2012 die interaktive Online-Lernplattform OpenHPI mit zahlreichen Kursen zu IT- und Digitalisierungsthemen. Darunter sind auch KI-Einstiegskurse, für die sich regelmäßig mehrere Tausend Nutzer einschreiben. „Wir sehen diese Plattform als Mission und betreiben digitale Aufklärung“, sagt Christoph Meinel, Geschäftsführer des HPI und Programmdirektor von OpenHPI.

In vielen Bereichen werde der Einsatz von KI von der breiten Bevölkerung gar nicht mehr hinterfragt, glaubt Meinel. Als Beispiele nennt er die Nutzung von Suchmaschinen sowie die Verwendung von KI im Zusammenhang mit personalisierter Werbung oder Navigationssystemen.

Dann wiederum gebe es Bereiche, bei denen die Vorstellung mitschwinge, dass KI alle arbeitslos machen werde. „Es wäre gut, wenn die Leute besser darüber informiert sind, was sich hinter dem Begriff KI genau verbirgt, damit es weder zu einer Überschätzung noch zu einer Unterschätzung der Technologie kommt“, sagt Meinel. Allein schon deswegen hält er Bootcamps und Weiterbildungsangebote zum Thema KI für wertvoll.

Katharina Zweig, Bestsellerautorin („Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl“) und Leiterin des Algorithm Accountability Lab am Fachbereich Informatik der TU Kaiserslautern, teilt diese Einschätzung im Grundsatz. Allerdings warnt sie gerade Unternehmen vor überzogenen Erwartungen an KI-Bootcamps: „Data Scientists bildet man damit nicht aus.“

Der Unterschied zwischen Libraries und APIs

Libraries

Mit Programmbibliotheken (Libraries) wie TensorFlow oder PyTorch lassen sich eigene neuronale Netze entwickeln, trainieren und in den Programmcode einbauen. Hierfür ist jedoch tiefes Programmier- und Data-Science-Wissen erforderlich. Der Einsatz von Libraries kann in bestimmten Fällen notwendig sein, in denen keine voll trainierten neuronalen Netze zur Verfügung stehen. „Wenn ich ein ganz bestimmtes Problem habe, zum Beispiel wenn ich in einer ganz spezifischen Umgebung mit Hilfe von KI optisch gute von schlechten Schweißnähten unterscheiden will, dann muss ich mit einer Library ein entsprechendes neuronales Netz selbst programmieren und trainieren“, erklärt KI-Experte Jörg Bienert.

APIs

Programmierschnittstellen, wie sie auch die großen Clouddienste wie Microsoft Azure, Amazon Web Services oder Google anbieten, beinhalten bereits voll trainierte neuronale Netze. Mit solchen APIs lassen sich beispielsweise Inhalte von Fotos klassifizieren, gescannte Dokumente in Text umwandeln oder Sprache in Text transkribieren. Welcher KI-Baukasten für ein Unternehmen in Frage kommt, hängt sehr stark vom Anwendungsfall, der Datenbasis und dem vorhandenen Know-how beim Personal ab.

Wenn ein Unternehmen eigenständig KI-Anwendungen in seine Produktionsprozesse integrieren wolle, brauche es angesichts der Komplexität der Materie dafür Fachleute mit einer mehrjährigen Ausbildung. Allerdings seien KI-Bootcamps geeignet, um Botschafter und Scouts für Data Science in Unternehmen auszubilden, glaubt Zweig.

Und allein das könne schon sehr wertvoll sein: „Ich glaube, dass insbesondere in der deutschen Industrie noch sehr viele ungehobene Schätze liegen – extrem viele Daten zu Fertigungsprozessen, Rohstoffen und Produkten“, sagt Zweig. „Wenn wir mehr Leute hätten, die verstehen, was Daten sind und wie sie genutzt werden können, könnten wir in Deutschland sehr schnell viele neue professionelle KI-Produkte auf den Markt bringen“, fügt sie hinzu.

Die Professorin empfiehlt Unternehmen, sich zunächst auf die Potenziale von ethisch unbedenklichen KI-Anwendungen zu konzentrieren – also KI, bei der es nicht um die Beurteilung von Menschen geht. Für diese Fälle gebe es bereits zahlreiche, datenschutzkonforme und dezentrale Werkzeuge „von der Stange“. Darüber hinaus sollten Botschafter und Scouts für Data Science ausgebildet werden, die in Unternehmen mögliche Einsatzgebiete für KI-Anwendungen erkennen und im Dialog mit Dienstleistern die Übersetzungsarbeit leisten können.

„Dieses breite Verständnis davon, was Daten sind und was sie leisten können, ist wirklich ein Gamechanger und wird bei vielen Unternehmen den Unterschied machen, ob sie in 30 Jahren noch da sind oder nicht“, glaubt Zweig. Und dafür brauche man Botschafter und Scouts für Data Science „ganz dringend“.

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