Industriesoftware zu programmieren ist komplex. Mehrere Start-ups wollen das ändern – mit einer gemeinsamen Sprache für Mensch und Maschine.
Bessere Kommunikation zwischen Mensch und Maschine
Die Plattform Tulip ermöglicht die Digitalisierung der Produktion ohne die Einbindung von IT-Experten.
Bild: Getty Images [M]
Düsseldorf Wenn ein Mitarbeiter aus der Achsenmontage des Bielefelder Werkzeugmaschinenherstellers DMG Mori einen neuen Kollegen einarbeiten will, muss er die nötigen Arbeitsschritte nicht lange erklären: Denn durch die wesentlichen Arbeitsgänge führt den neuen Kollegen eine App. Schritt für Schritt erklärt das Programm, welches Bauteil als Nächstes montiert werden muss – und wie etwa die Maße für Bohrlöcher aussehen müssen, damit das montierte Bauteil die Qualitätsprüfung besteht.
Die App dafür haben die Werksmitarbeiter selbst entwickelt – ohne Softwareentwickler, ohne IT-Abteilung, ja selbst ohne eigene Programmierkenntnisse. Denn auf den Maschinen von DMG Mori läuft eine Software, die ihnen die gesamte Entwicklungsarbeit abnimmt. Über eine einfach gehaltene Eingabemaske kann der Mitarbeiter jeden einzelnen Arbeitsschritt, den er zuvor manuell ausgeführt hat, in eine Prozessliste eingeben und ihn damit digitalisieren.
Der App-Baukasten funktioniert, etwas vereinfacht, nach dem Prinzip: „Wenn dies passiert, dann tue das“ – und lässt sich nicht nur für die Einarbeitung, sondern auch für die Automatisierung von Arbeitsgängen nutzen. Wie mit einem Kollegen kann der Werksarbeiter über die Eingabemaske mit der Maschine kommunizieren. Am Ende fasst die Software die einzelnen Arbeitsschritte in einem Programm zusammen. Die daraus entstehenden Apps können genauso wie die Pendants auf den Smartphones auf anderen Maschinen installiert und damit beliebig vervielfältigt werden.
Die Plattform, die das ermöglicht, heißt Tulip – und wurde vom gleichnamigen Start-up aus dem Großraum Boston entwickelt. 2019 hatte DMG Mori selbst in das Start-up investiert. Knapp zwei Jahre später ist Vorstandschef Christian Thönes von den Ergebnissen begeistert. „Mittlerweile haben wir 600 Mitarbeiter geschult, rund 80 Apps programmiert und mehrere Hundert Kunden begeistert. Bis zum Jahresende wollen wir diese Zahlen verdoppeln“, sagte der Manager dem Handelsblatt – und das ohne Einbindung von IT-Experten. „Die Geschwindigkeit, mit der wir dadurch bei der Digitalisierung unserer Produktion und der gesamten Wertschöpfungskette vorangekommen sind, hätten wir sonst nie erreicht.“
Das Konzept hinter diesem Erfolg heißt „No Code“: Es soll Fabrikarbeiter auf der ganzen Welt dazu befähigen, mit einfachsten Mitteln und ohne Vorkenntnisse zum Softwareentwickler zu werden. Auch andere Unternehmen, wie etwa das Dresdner Start-up Wandelbots, haben dieses Konzept für sich entdeckt. Sie verbinden leicht zu verstehende Bedienelemente mit größtmöglicher Gestaltungsfreiheit – und liefern damit womöglich die Antwort auf ein branchenübergreifendes Problem.
Ob im Maschinenbau, in der Elektronikbranche oder in der Chemieindustrie: Überall suchen Unternehmen händeringend nach IT-Fachkräften, um die eigenen Fertigungsprozesse zu digitalisieren. Insgesamt 86.000 offene Stellen zählte der IT-Branchenverband Bitkom im vergangenen Jahr. Am stärksten gefragt waren dabei Softwareentwickler: Rund 52 Prozent aller Unternehmen mit offenen IT-Stellen haben nach einer oder mehreren Fachkräften mit diesem Tätigkeitsprofil gesucht.
Es sind die Zeichen einer Zeit, in der sich nicht nur der Einzelhandel und die Finanzbranche, sondern auch große Teile der industriellen Wertschöpfung immer stärker durch digitale Technologien und datengestützte Analysen verändern. Laut einer Untersuchung, die die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) in Zusammenarbeit mit dem Weltwirtschaftsforum (WEF) Anfang dieses Jahres veröffentlichte, schätzen 72 Prozent der Führungskräfte in der verarbeitenden Industrie die Bedeutung sogenannter „Advanced Analytics“ höher ein als noch vor drei Jahren.
Doch die eigenen IT-Fähigkeiten in den Unternehmen halten mit der wachsenden Bedeutung nicht Schritt. So gaben 26 Prozent der insgesamt 1400 befragten Manager an, es fehle an ausreichenden Kompetenzen und Kapazitäten, um die bisherigen Bemühungen auszuweiten.
Das Urteil von BCG-Partner Daniel Küpper, der die Studie mit verfasst hat, fällt ernüchternd aus. „Die Unternehmen haben zwar erkannt, dass die Industrie vor einer datengetriebenen Revolution steht“, so der Experte. Doch bei vielen herrsche Frustration. „Es fehlt an Fachkräften, aber auch an einer konkreten Vorstellung davon, wie Daten nutzbar gemacht werden können und was vielversprechende Anwendungen sind.“
Dieser Ratlosigkeit vieler Führungskräfte stellen Start-ups wie Tulip die Befähigung der Mitarbeiter auf den unteren Hierarchieebenen entgegen. Denn kaum einer weiß über die Prozesse in der Fertigung besser Bescheid als die Werker, die sie ausführen. Tulip-Gründer Natan Linder spricht in dem Zusammenhang gern von der „Demokratisierung des Shopfloors“, also der Werkshalle, die seine Software ermögliche. „Man muss die Kreativität der Ingenieure und der Werksarbeiter freisetzen, um das volle Potenzial der Digitalisierung in der Industrie zu entfalten“, so der Gründer.
Linder muss es wissen: Der Mehrfachgründer sammelte selbst einige Jahre Erfahrung bei produzierenden Unternehmen wie Samsung oder Rethink Robotics, wo er zum Teil mit der Entwicklung nutzerfreundlicher Benutzeroberflächen betraut war. Nach einer Anstellung als Forschungsassistent beim renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) gründete er mit weiteren Mitstreitern erst den 3D-Druckerhersteller Formlabs, bevor er 2014 schließlich Tulip gründete. Mittlerweile hat das Start-up mehrere Hundert Kunden auf der ganzen Welt.
Den Vorteil des „No-Code“-Ansatzes von Tulip erklärt auch DMG Mori-Chef Thönes mit der Ermächtigung der Mitarbeiter. „Es hilft dem Unternehmen nicht, wenn ich als Führungskraft vorauslaufe“, so der Manager. „Das Fertigungsumfeld ist sehr heterogen. Es kommt darauf an, alle unsere Mitarbeiter zu ertüchtigen – dafür ist Tulip ideal.“ Das sei im Vergleich zu großen IT-Projekten ein völlig neuer Ansatz: „Die Digitalisierung wird nicht von oben herab diktiert, sondern funktioniert von unten nach oben, also ‚Bottom-up‘.“ Dabei sei die Software flexibel, intuitiv und einfach wie Lego, so Thönes.
Als Beleg dafür nennt der Manager eine App, die in der Produktionsabteilung entwickelt wurde, um mögliche Effizienzgewinne im Vorfeld neuer Projekte zu ermitteln. „Die erhobenen Daten helfen uns dabei, den direkten Nutzen von Digitalisierungsaktivitäten zu messen und so bessere Entscheidungen zu treffen.“ Neben der Datenerfassung setzt der Konzern die Tulip-Software unter anderem auch in der Qualitätssicherung sowie für Mitarbeitertrainings, Dokumentenmanagement und Arbeitsanweisungen ein – beispielsweise in der Spindelfertigung sowie in seiner Fließfertigung mit fahrerlosen AGV-Transportsystemen („Automated Guided Vehicles“).
Auch das Dresdner Start-up Wandelbots arbeitet daran, das Coden überflüssig zu machen – richtet sich dabei aber vor allem an die Anwender von Industrierobotern, deren Bewegungsabläufe ebenfalls meist in einem dreidimensionalen Koordinatensystem programmiert werden müssen. Das ist in der Regel aufwendig und kostet Geld. Entsprechend schwierig ist es für viele Unternehmen, ihre Prozesse kurzfristig auf neue Produkte umzustellen.
Die Lösung von Wandelbots heißt „Trace-Pen“: Das ist ein etwas klobiger Stift, mit dem Mitarbeiter die gewünschten Bewegungen des Roboters in der Realität „nachzeichnen“ können. Nach Angaben des Herstellers soll das 70-mal schneller sein als eine herkömmliche Programmierung. Kern der Idee ist auch hier die Demokratisierung: „Wir wollen die Robotik für alle zugänglich machen, nicht nur für Experten“, so das Motto des Unternehmens.
Mit diesem Ansatz hat Wandelbots zahlreiche namhafte Investoren aus der klassischen Industrie für sich gewonnen. Neben Siemens und dem Familienkonzern Haniel hat beispielsweise auch der Softwaregigant Microsoft in das Unternehmen investiert. Ähnlich groß ist das Interesse traditioneller Konzerne an Tulip: Neben dem Investor DMG Mori zählt das Start-up auch den französischen Automatisierungskonzern Schneider Electric sowie den Rüstungshersteller BAE Systems zu seinem Anwenderkreis.
Nach Ansicht von Tulip-Chef Linder eignet sich die „No-Code-Technologie darüber hinaus vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen, denen es oft an Kapazitäten fehlt, ihre eigenen Softwareanwendungen zu entwickeln. „Wenn ich eine große Firma mit 50.000 Mitarbeitern leite, dann kann ich für ein IT-Projekt wahrscheinlich eine große Beratungsgesellschaft engagieren“, so der Gründer. „Doch mit unserer Plattform können Unternehmen aller Größen, vom kleinen Mittelständler bis zum Konzern, diese Kompetenzen selbst entwickeln.“ Auch darin liegt eine Form der Demokratisierung.
Mehr: Leicht programmierbare Serviceroboter sind die große Hoffnung der Branche. Ein neuer Verband will die Szene vernetzen.
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×