Konkrete Absprachen, viel Vertrauen und ausreichend Zeit für Small Talk: Damit die Arbeit im Homeoffice gelingt, braucht es die richtige Kultur.
Katharina Borchert
„Wenn man nicht mehr einfach den Gang runtergehen kann, muss man Teamnormen viel expliziter machen.“
San Francisco, Düsseldorf Katharina Borchert sitzt in einem Konferenzraum in Mozillas Hauptquartier in Mountain View. An der hinteren Wand ist ein großer Bildschirm für Videokonferenzen. Es ist Ende Februar, einer der letzten Tage, bevor die Angst vor dem Coronavirus das Silicon Valley endgültig erfasst. Einen Tag, bevor Facebook Tausenden Mitarbeitern auf seinem Campus im nahen Menlo Park „dringend empfiehlt“, nur noch im Homeoffice zu arbeiten.
Für Mozilla, das mit Firefox den drittmeist verbreiteten Internetbrowser der Welt anbietet, ist das kaum etwas Neues. 1998 als Stiftungsunternehmen auf den Ruinen des Browser-Pioniers Netscape entstanden, hat es seine Ursprünge in der ehrenamtlichen Open-Source-Bewegung, deren Hauptquartier schon immer das Internet war. Viele Mitarbeiter fingen von irgendwo auf der Welt als Programmierer in einzelnen Projekten an und zogen auch dann nicht nach Kalifornien, als sie einen festen Job bei Mozilla bekamen.
Das 50-Leute-Team, das Innovationschefin Borchert leitet, schreibt Codes für Firefox und hat „Common Voice“ entwickelt, die zweitgrößte Open-Source-Datenbank für Sprachaufnahmen, mit denen beispielsweise smarte Assistenten trainiert werden können.
Die 47-Jährige ist die Einzige, die ins Büro in Mountain View kommt. Sie mache das ganz gerne. Mit den anderen hält sie Videokonferenzen ab, wegen der Zeitverschiebung manchmal von morgens beim Gassigehen bis spätabends. „Telefon ist extrem ungeeignet“, sagt sie. Eine Videokonferenz helfe Missverständnisse und Durcheinanderreden zu vermeiden – wenn sie technisch einwandfrei funktioniert.
Die Mitarbeiter arbeiten auf neun Zeitzonen verteilt, in Büros, Coworking-Spaces oder zu Hause. Ihr ehemaliger „Chief of Staff“ nannte eine Waldhütte in Nordschweden sein Büro, andere sitzen in Mumbai oder München. Selbst ihre persönliche Assistentin arbeitet im nahen San Francisco, aber spart sich die Pendelei runter ins Silicon Valley.
Ein paar Wochen später sind viele Unternehmen auf der ganzen Welt Mozilla – gezwungenermaßen. Wegen der Corona-Pandemie müssen sich Betriebe, in denen eben noch gestempelt wurde, mit Telefonkonferenzen und Vertrauensarbeitszeit anfreunden.
Chefs, die Produktivität sonst an der Bürostuhl-Belegungsrate auf ihrem Gang messen, sitzen nun selbst im Homeoffice. Arbeitsroutinen, Arbeitszeiten, informelle Hierarchien, Kaffeeklatsch – alles muss neu geordnet werden.
Heimarbeit par ordre du virus – es ist ein gigantisches soziales Experiment, das die Arbeitskultur weit über die Coronakrise hinaus verändern könnte. Gelingt es Firmen, Fernarbeit produktiv in ihre Abläufe zu integrieren, könnten Mitarbeiter, die das wollen, an den meisten Tagen zu Hause bleiben. Arbeitnehmer mit Kindern könnten sich die morgendliche Triangulation Haus – Kita – Büro sparen. Und Innenstädte könnten langfristig von grauen Bürokomplexen und Pendlerstaus befreit werden.
Scheitert es, kommt jedoch zur drohenden Wirtschaftskrise auch noch eine Produktivitätskrise für Millionen Unternehmen und Angestellte, die zwischen Slack-Nachricht, Zoom-Konferenz und Windelwechseln den Verstand verlieren.
Borchert kennt deutsche Büros – die Ex-Journalistin war Chefredakteurin des Nachrichtenportals „Der Westen“ in der Funke-Mediengruppe und Geschäftsführerin von Spiegel Online. In Deutschland gebe es ein Misstrauen, ob Mitarbeiter im Homeoffice wirklich arbeiten. Auch in den Unternehmen, die Borchert damals führte, habe sie nie eine andere Kultur etablieren können. „Ich habe mir von meinem Team beibringen lassen, was gute Remote Leadership ausmacht“, sagt sie.
Und was macht sie aus? „Du musst viel mehr dokumentieren – Team-Normen, Abläufe und Konferenzen“, bemerkt Borchert. Wenn sie am Wochenende eine E-Mail schreibt, weist sie darauf hin, dass sie erst am Montag beantwortet werden muss. Konferenzen mit Europa darf Borchert nur bis 10 Uhr vormittags ansetzen – wenn die Mitarbeiter keine Ausnahme erlauben. Schickt jemand eine Nachricht im Büro-Messenger Slack an alle Mitglieder eines Kanals, wird er von einem Bot automatisch auf die verschiedenen Zeitzonen hingewiesen, in denen die Mitglieder sind und wer sie daher womöglich nicht mehr liest.
Überhaupt verselbstständigen Slack-Bots vieles bei Mozilla: Einer fragt die Mitarbeiter jeden Montagmorgen, welche wichtigen Projekte sie vergangene Woche geschafft haben, was sie diese Woche schaffen wollen und ob es etwas Persönliches gibt, was sie teilen wollen – Letzteres, um den Tratsch aus der Kaffeepause in das virtuelle Büro zu übertragen.
Als einmal viele neue Mitglieder zu Borcherts Team stießen, loste der „Donut-Bot“ jedem alle zwei Wochen einen anderen Kollegen zu, mit dem man dann per Videokonferenz Kaffee trinken ging.
Das seien nicht nur Notnägel, beteuert Borchert. Es seien auch keine Ideen, die nur in der Softwarebranche oder in einem Non-Profit-Unternehmen funktionierten. Im Gegenteil bringe diese Kultur Vorteile, die gar nichts mit Heimarbeit zu tun haben. Neue Mitarbeiter könnten zum Beispiel einfacher integriert werden, weil sie wissen, wo sie wichtige Informationen finden oder wer für was zuständig ist – weil die sonst unausgesprochenen Gesetze eines Teams ausgesprochen werden.
„Im Büro wabern die Team-Normen implizit durch den Raum“, sagt Borchert. „Wenn man nicht mehr einfach den Gang runtergehen kann, muss man sie viel expliziter machen.“ Und mal ehrlich, wie viele Firmen organisieren überhaupt Kaffee-Dates zwischen alten und neuen Mitarbeitern – ob per Bot oder am schwarzen Brett?
Mozilla ist weltweit bekannt, aber im Silicon Valley ein recht kleiner Fisch. Auch ein weit größerer hat seinen Campus in Mountain View und buhlt um ähnliche Mitarbeiter wie Mozilla. „Ich muss mich nicht mit Google in einen Wettstreit begeben, wer die besten Machine-Learning-Talente von Stanford zu sich holt“, sagt Borchert. „Es gibt genauso gute Leute in Bulgarien oder Indien.“
Im Tal der Erfinder und Entwickler scheinen alle Faktoren für eine starke Heimarbeitskultur zusammenzukommen: eine junge, digital gebildete Arbeiterschaft. Jobs, bei denen Output statt abgesessene Stunden zählen. Und der harte Talentwettbewerb, die gigantischen Immobilienpreise und Gehälter belohnen eine weltweit verteilte Kollegenschaft.
Doch eine starke Heimarbeitskultur ist keine Frage der Geografie: Google, Apple oder Facebook sind zwar Digitalunternehmen, aber längst keine rein digitalen Unternehmen. Mit ihren gigantischen Hauptquartieren wie dem Googleplex, dem ufoförmigen Apple Park oder dem Salesforce Tower haben gerade die Silicon-Valley-Giganten der Kultur des Massenbüros Kathedralen errichtet.
Vor Corona konnten selbst Facebook-Mitarbeiter mit Kindern, die häufiger von zu Hause aus arbeiten wollten, oft nur einen Tag im Homeoffice bleiben. In einer Telefonpressekonferenz bekannte Facebook-Chef Mark Zuckerberg kürzlich, dass die Arbeit zu Hause mit seiner Frau und den zwei Kindern auch für ihn eine große Umstellung sei.
Das gilt für sein Unternehmen, das mit Facebook Workplace sogar eine Plattform für verteilte Teams anbietet, umso mehr: Facebook-Mitarbeiter gerieten nach der Homeoffice-Order in Streit darüber, ob Diskussionen, welcher Wochenmarkt die besten Samen verkauft, in die internen Arbeitsforen gehören oder nicht. Eine Art von Diskussion, die aktuell nicht nur Facebook erlebt.
„Die großen Konzerne hier sind eben genau das: große Konzerne“, sagt Aaron Levie. Der 34-Jährige gründete den Cloud-Dienstleister Box 2005 als Student, er kennt das Silicon Valley und seine Kultur bestens. „Die Unternehmen hier haben alle digitalen Werkzeuge, aber sie stehen vor vielen Fragen derselben Art: Wie garantieren wir IT-Sicherheit, wenn plötzlich Tausende Mitarbeiter von außen auf unser Netzwerk zugreifen?“, sagt er. Für Erdbeben hätten viele in der Gegen rund um San Francisco Notfallpläne, für eine Pandemie nicht.
Für das Videotelefonat sitzt der Gründer in seinem Wohnzimmer unter einer abstrakten Zeichnung. Es ist Ende März, in der Box-Zentrale in Redwood City, gleich neben der Bahnlinie zwischen San Francisco und Palo Alto, ist seit Wochen nur noch eine Notbesetzung.
Warum ein Unternehmen wie Box überhaupt eine Zentrale braucht? Levie spricht von spontaner Kollaboration, von Flipcharts, an die man sich schnell mal stellen könne. Aber er sagt auch: „Wir werden nach Corona ganz anders darüber nachdenken.“
Er lerne gerade in Echtzeit, wie Fernarbeit die Kultur zum Besseren verändere. Die wöchentlichen Vollversammlungen, an denen die meisten Mitarbeiter persönlich teilnahmen, finden nun virtuell statt. „Es kommen mehr Fragen von mehr unterschiedlichen Leuten. Es ist kollaborativer als früher“, sagt Levie.
Es ist vielleicht der kalifornische Optimismus, auch der Krise Positives abtrotzen zu wollen. Vielleicht sind es die Geschäftschancen, die ein Cloud-Unternehmer wie Levie durch einen Trend zur Fernarbeit sieht. Doch auch wenn es vor allem Softwareunternehmen sind, die für eine stärkere Remote-Kultur werben, sind wenige der Gründe auf ihre Branche beschränkt. Nicht nur Entwickler bringen lieber ihre Kinder zu Bett, als um diese Zeit im Pendlerzug zu stecken.
Natürlich, wie bei vielen Dingen sind die Unternehmen aus dem Silicon Valley experimentierfreudiger. Es gibt Unternehmen, wie das Entwickler-Netzwerk Gitlab eines niederländischen und zweier ukrainischer Unternehmer, die über die Start-up-Akademie „Y Combinator“ in San Francisco landeten, aber sich bis heute als „Remote Company“ bezeichnen, als Unternehmen ohne Zentrale.
Und es gibt Konzerne wie Facebook, die sich an die durch Corona erzwungene Diaspora genauso erst gewöhnen müssen wie mancher Mittelständler oder Dax-Konzern.
Gleichzeitig gibt es Firmen mit starker Fernarbeitskultur nicht nur im Laissez-faire-Staat Kalifornien, sondern auch in Deutschland. Dazu zählt zum Beispiel der Cloud-Anbieter Nextcloud. Die Open-Source-Software der Firma wird unter anderem von der Bundesregierung für den Datenaustausch zwischen Behörden eingesetzt.
„Wir haben zwar ein Büro in Stuttgart und eines in Berlin, aber unsere Mitarbeiter arbeiten überwiegend im Homeoffice – teilweise über mehrere Zeitzonen hinweg“, sagt Nextcloud-Gründer Frank Karlitschek. Ein Kollege lebe beispielsweise auf Hawaii.
Die 55 Mitarbeiter seien es gewöhnt, sich auf digitalen Kanälen abzusprechen. „Homeoffice erfordert, dass ein Unternehmen ergebnisorientiert denkt. Ich kann nicht überprüfen, wie lange ein Mitarbeiter arbeitet oder wie lange Pausen er macht“, sagt Karlitschek. Am Ende zählten die Ergebnisse und nicht die Arbeitsstunden. „Bei uns ist egal, wer wann wo und wie lange arbeitet.“
Zudem setze das Unternehmen auf eine Arbeitsweise, die ebenso zeitversetzt erfolgen kann. „Unsere Prozesse laufen auch asynchron. Wir haben wenig klassische Meetings. Dafür arbeiten wir mit Chats.“ Dort könnten Absprachen oder Aufgaben geteilt werden, die dann ein Mitarbeiter aufgreife, sobald er Zeit dafür habe – etwa weil er in einer anderen Zeitzone lebt und daher zu anderen Uhrzeiten wach ist.
Ganz ohne persönlichen Kontakt komme aber auch das Team von Nextcloud nicht aus, betont Karlitschek. „Wir kommen mehrmals im Jahr für eine Woche zusammen.“ Dadurch könnten persönliche Kontakte aufgebaut und vertieft werden, die später Absprachen erleichterten. Eigentlich sollen bald alle Mitarbeiter in Berlin zusammenkommen, doch das geht wegen der Corona-Pandemie nicht. Das Treffen findet nun als Videokonferenz statt.
Anmerkung der Redaktion: Mitautor Alexander Demling arbeitete bei Spiegel Online, als Katharina Borchert dort Geschäftsführerin war.
Mehr: Trotz Homeoffice und kontaktlosem Bezahlen bewirkt die Pandemie nur eine Pseudo-Digitalisierung. Aber sie bietet auch die Chance, den Kurs zu ändern.
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