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26.02.2022

14:00

Wer im Metaversum shoppt, soll die Produkte vor dem Kauf auch „erspüren“ können. Klawe Rzeczy, Getty Images

Haptik-Technologie

Wer im Metaversum shoppt, soll die Produkte vor dem Kauf auch „erspüren“ können.

Insight Innovation

Das Internet anfassen: Wie Haptik-Technologie das Metaversum ermöglicht

Von: Melanie Raidl

Mit Mid-Air Haptics können Nutzer fühlen, was sie in der virtuellen Realität sehen. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig, nicht nur im E-Commerce.

Düsseldorf ech

Wer im Metaversum shoppt, soll die Produkte vor dem Kauf auch „erspüren“ können. Klawe Rzeczy, Getty Images

Haptik-Technologie

Wer im Metaversum shoppt, soll die Produkte vor dem Kauf auch „erspüren“ können.

Beim Onlineshopping weiß man nie, wie sich der Stoff des neuen Oberteils wirklich anfühlt oder wie das neueste Technik-Gadget in der Hand liegt. Doch bald können Kunden endlich auch die Online-Auslage anfassen.

Möglich macht das ein unscheinbares Gerät, das aussieht wie ein Tablet. Wer seine Hand darüber bewegt, fühlt, was auf dem Bildschirm zu sehen ist.

Das englische Start-up Ultraleap hat dafür viele kleine Lautsprecher in sein „Tablet“ eingebaut. Die „acoustic radiation force“-Technologie sorgt per Ultraschall ohne Berührung für virtuell fühlbare Oberflächen und Gegenstände.

Zahlreiche Forscher und Unternehmen arbeiten aktuell an solcher sogenannter „Mid-Air Haptics“-Technologie – haptische Eindrücke, mitten in der Luft. Das „Internet zum Anfassen“ ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Verschmelzung von physischer und virtueller Realität zum Metaversum. Es lockt eine futuristische Vorstellung: Die Handtasche im Online-Shop auch anfassen, die Hand eines Freundes im Zoomcall schütteln.

Das könnte Onlineshopping, Gamingwelt und auch das Autofahren grundlegend verändern. Marktforscher VPA Research prognostiziert für das Jahr 2026 einen Markt für Technologien für den Tastsinn von 28 Milliarden US-Dollar.

Das Gerät unterhalb des Bildschirms kann Berührungen spürbar machen – mit einer Reichweite von bis zu 70 Zentimetern. Ultraleap

Haptik-Tablet

Das Gerät unterhalb des Bildschirms kann Berührungen spürbar machen – mit einer Reichweite von bis zu 70 Zentimetern.

Beim Möbelkonzern Ikea können Kunden bereits heute mit einer VR-Brille einen virtuellen Showroom besuchen. H&M bietet digitale Umkleidekabinen mit individuellem Avatar-Abbild der Kunden. Nike, Ralph Lauren und Kaufland experimentieren mit Einkaufsläden in der virtuellen Realität.

Das Technologie-Beratungsunternehmen Gartner prognostiziert, dass 30 Prozent der weltweiten Unternehmen bis 2026 Produkte oder Services im Metaversum anbieten werden. Die US-Investmentbank Morgan Stanley schätzt den Umsatz im Metaverse im Jahr 2030 allein für Luxusmarken auf 50 Milliarden US-Dollar.

Mid-Air Haptics – ein Gefühl wie direkt neben einem Konzert-Lautsprecher

„Haptisches Feedback“ ist schon länger auf dem Markt und sorgt für viel präzisere mechanische Rückmeldungen als brummende klassische Vibrationsmotoren. Es sorgt bei iPhones mit Homebutton dafür, dass es sich anfühlt, als drücke man einen echten Knopf – obwohl seit dem iPhone 6S nur noch ein unbeweglicher Touch-Sensor verbaut ist. Auch das neuartige haptische Feedback im Controller der Playstation 5 sorgt dafür, dass es sich anfühlt, als tippe einem das Spielgerät kräftig auf die Hand. In beiden Fällen bewegen sich aber Objekte in der Hand.

Die „Luft-Technologie“ braucht keine Gegenstände oder gar Haptik-Handschuhe und fühlt sich dadurch realitätsnäher an. Haptikforscher Claudio Pacchierotti vom vom nationalen Forschungszentrum Frankreich erklärt, die Mid-Air-Haptics-Technologie sei vergleichbar mit dem Gefühl direkt neben einem Konzert-Lautsprecher: „Ist die Musik sehr laut, spürt man sie auf der Haut.“

Um Oberflächenstrukturen zu erfühlen, muss der Nutzer das Tablet nicht berühren. Ultraleap

Illustration des Mid-Air-Feedbacks

Um Oberflächenstrukturen zu erfühlen, muss der Nutzer das Tablet nicht berühren.

Das Gerät von Ultraleap arbeitet ganz ähnlich: Mit Ultraschall, der in sogenannten Scherwellen über die Haut geht und dort die Mechanorezeptoren reizt, die für den Tastsinn zuständig sind. So entstehen viele kleine „Druckpunkte“ auf der Haut, die dem Gehirn das Tast-Abbild eines Gegenstands übermitteln. „In Zukunft kann es möglich sein, mit der Technologie Dinge aus der Ferne zu erfühlen, bevor man sie kauft“, sagt Pacchierotti.

Kombiniert mit einer Virtual-Reality-Brille ergibt das eine sehr überzeugende Illusion. Orestis Georgiou, Leiter der Forschung und Entwicklung des Start-ups Ultraleap erklärt: Sensoren im Headset erfassen die Bewegung der Hände, ein damit verbundenes Tablet stellt mit Ultraschallwellen an der richtigen Stelle den haptischen Eindruck her.

Immense wirtschaftliche Bedeutung

Margot Racat ist Forscherin für digitales Marketing an der Universität Lyon in Frankreich und untersucht auch die Auswirkungen des Fühlens auf den Konsum. In einer ihrer aktuellen Studien fand sie heraus, dass haptische Technologien die Kaufabsichten steigern. Das macht sie hochinteressant für den Handel – und damit für die Weltwirtschaft. Die 13 größten Handels-Plattformen der Welt haben im vergangenen Jahr laut einer UN-Studie Waren im Wert von 2400 Milliarden Euro verkauft.

Haptikforscher Pachierotti bestätigt: virtuelle Einkäufe und Spiele seien realitätsnäher, wenn man Objekte nicht nur sehen, sondern auch fühlen könne. „Haptik ist für das Metaverse fundamental.“

Kunden könnten dann in einem Laden mit Mid-Air-Haptics und einer VR-Brille verschiedene Materialien erfühlen, ihre Kleidung individuell zusammenstellen und einen fertig konfigurierten Schuh schon einmal in die Hand nehmen – bevor er überhaupt angefertigt wird.

An solchen Anwendungen arbeitet Pacchierotti gemeinsam mit der Universität Birmingham (England), der Universität Delft (Niederlande) und Ultraleap im Projekt H-Reality. Das Team steht bereits mit möglichen Händlern in Kontakt, um Demonstrations-Anwendungen zu testen.

Vor allem beim Tastsinn besondere Vorsicht

Aber wie alltagstauglich sind diese Neuentwicklungen? Für Trainingszwecke wie etwa bei Flugsimulatoren sind Haptik-Technologien bereits ausgereift und hilfreich, sagt Konsumforscherin Margot Racat. Für den Verbrauchermarkt sind sie ihrer Meinung nach jedoch noch nicht ausreichend getestet worden.

Vor allem beim Tastsinn müsse man vorsichtig sein, wie man ihn mit einer Technologie stimuliert. Es sei die intimste Kontaktmöglichkeit eines Menschen, auch sei der Tastsinn schnell überfordernd. Sehr viele Materialien könnten mit Mid-Air-Technologie nicht ertastet werden, was zu Verwirrung führen kann.

Racat spricht hier besonders von der jüngeren Generation, die manche Produkte nur aus dem Online-Shop kennt: „Nachfolgende Generationen werden beim virtuellen Ertasten keine Erfahrungswerte zu den Originalen haben.“

Als sinnvoll erachtet sie Mid-Air-Haptics in Kombination mit Hologrammen: Wird ein dreidimensionales Bild über eine Smartwatch oder eine Augmented-Reality-Brille in die physische Welt projiziert, würde es sich normal anfühlen, es auch berühren zu können. „Davon sind wir aber noch sehr weit entfernt“, sagt Racat.

Stoffe und Texturen sind erst begrenzt zu erspüren

Dem Fühlen seien Grenzen gesetzt, sagt auch Ultraleap-Forscher Georgiou. Mit Mid-Air-Haptics-Technologie sei es bislang noch nicht möglich, Kaschmir, Wolle oder Polyester erfühlbar zu machen. „Mit der haptischen Technologie können wir aber ein immersives Einkaufserlebnis ermöglichen,“ sagt Georgiou. Kunden könnten damit zumindest die Struktur eines Kleidungsstückes spüren, also ob ein Pullover etwa wellenartig zusammengestrickt oder glatt verarbeitet ist.

Auch Andreas Noll von der Technischen Universität München forscht zu haptischer Technologie und bestätigt: „Reichhaltige und aufwendige Eindrücke, wie etwa verschiedene Stoffe zu ertasten, ist mit Mid-Air Haptics noch nicht möglich.“ Mid-Air Haptics sei aktuell eher bei einfachen Anwendungen sinnvoll, etwa wenn in einem Spiel Luftblasen zerplatzen oder Regen auf die Haut fällt.

Das Gaming im Metaverse ist für Noll dann aktuell noch das wichtigere Anwendungsgebiet der Mid-Air Haptics: „Es kommen immer mehr VR-Brillen raus, immer mehr Audio-Geräte, das was noch fehlt, ist das Anfassen.“ Joysticks und Controller könnten dann wegfallen. Menschen, die gerne Videospiele spielen, seien meist auch offen für neue Technologien, die sie noch näher damit verbinden, sagt Noll. Hier sieht er die Möglichkeit eines ersten Durchbruchs der Technologie.

Wenn die Detailgenauigkeit der Ultraschallwellen weiter steige, könnten dann auch Stoffe fühlbar werden. Bis Mid-Air soweit ist, forscht Noll an einer Alternative: Haptik-Handschuhen, die größere Genauigkeit ermöglichen. „Wenn man die richtigen Vibrationen erzeugt, kann man detaillierter Texturen und Oberflächen darstellen.“

Per Mid-Air Haptics endliche die Kunstwerke im Museum berühren

Das Fühlen im virtuellen Bereich ermöglicht zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. In Museen könnten Besucher digitale Kunstwerke berühren, die sie auf Bildschirmen oder als Holograme vor sich haben. Auch Selbstbedienungs-Terminals wie Check-In-Schalter an Flughäfen oder Selbstbedienungs-Kassen könnten anschaulicher werden und leichter zu bedienen sein. Berührbare Hologramm-Knöpfe und virtuelle Anschauungsmodelle könnten die Fehlerquote reduzieren.

Auch auf dem Armaturenbrett des Autos könnten statt vieler Knöpfe Hologramme in Verbindung mit Mid-Air-Technologie nur anzeigen, was gerade gebraucht wird und so die Bedienung erleichtern oder verschnellern, hoffen die Entwickler. In diesem Bereich hält Ultraleap die eigene Technologie für besonders vielversprechend.

Es kann zwar noch lange dauern, bis Mid-Air Haptics im E-Commerce ihren Platz finden und das Metaversum erspürbar machen. Aber Wissenschaftler und Unternehmer sind sich auch einig: Der Tag, an dem wir uns über das Internet die Hand geben, einen Parfümflakon drehen oder über einen Pullover streichen können, wird kommen.

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